Mittwoch, September 03, 2008

Schelling

Ein Versuch über den deutschen Romantiker und Idealisten Friedrich Schelling
Wolfgang Schaffarzyk

„… je mehr man von der Organisation des Universums versteht,
je reicher, unendlicher und weltähnlicher wird uns jeder Gegenstand.“
– Friedrich Schlegel

Vorwort
Blickt man auf die Geschichte Deutschlands zurück, sticht die Zeitspanne des 18. und 19. Jahrhunderts deutlich heraus. Scheinbar nie zuvor lebte eine so große Zahl bedeutender Persönlichkeiten in einer so engen Zeitspanne zusammen. Aus heutiger Sicht stellt sie gleichsam einen Ballungsraum der Kulturgeschichte dar und dies nicht nur von der Warte der Philosophie, sondern auch aus dem Blickwinkel der Literatur- und Naturwissenschaft. Die Werke Goethes und Schillers sowie der gesamten deutschen Romantik – allen voran Novalis, der im Moment eine Renaissance im anglo-amerikanischen Sprachraum erfährt – sind heute unumstrittene Weltliteratur. Immanuel Kant und die deutschen Idealisten bilden eine eigene Epoche innerhalb der Philosophiegeschichte; sie sind die Begründer des modernen menschlichen Geistes, Verstandes und des modernen personalen Selbstverständnisses. Neben Aristoteles sind Kant und Hegel die großen Systemphilosophen, die heute in jedem philosophiegeschichtlichen Lehrbuch und jeder Bibliothek gängiges Inventar sind. Allein um den Einfluss und die Wichtigkeit der Lehre und Methode Kants auf die heutige Philosophie und Wissenschaft zu erläutern, wird bis heute philosophisch geforscht und publiziert. Die vorliegende Arbeit kann nur ein Schlaglicht werfen. Daher soll der Fokus auf dem durch Kant inspirierten deutschen Idealismus und insbesondere auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, dem Mitbegründer der Romantik, liegen.1
Vordenker
Immanuel Kant vereinigte die beiden Strömungen von Rationalismus und Empirismus der Philosophie zu einer Synthese. Er wollte ein umfassendes System kreieren und begründete – wie er es selbst nannte – die kritische oder transzendentale Methode. Diese Methode sollte den Zweck verfolgen herauszufinden, wie unsere Erkenntnis von den Dingen schlechthin möglich ist. So ging es ihm um die systematische Aufdeckung von Axiomen des Denkens und die philosophische Erkenntnis von den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Der letzte Stand der Dinge – die Mechanik Newtons und das kopernikanische Weltbild – war für ihn die letzte Annäherung an die Wahrheit und somit war auch jeglicher Fortschritt als eine konsequente Annäherung an die Wahrheit zu deuten. In dieser Art und Weise verstanden Kant und die Kantianer den Fortschritt der Wissenschaft im Speziellen und des Wissens im Allgemeinen. Für Friedrich Schelling lagen die Dinge anders. Er sah in der von Kant und seinen Schülern konstatierten Wahrheit und der überstarken Betonung und Untersuchung des Verstandes nichts anderes als eine Verklärung. Bezüglich der Frage der Interpretation von Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, waren sich die Nachfolger Kants uneinig. So fand eine Spaltung des Lagers der Kantschüler statt, zu denen, wie fast jeder gebildete Mann dieser Zeit, auch Schelling zählte. Die Schüler spalteten sich in ein idealistisches und ein realistisches Lager unter der Berücksichtigung der Frage, wo Kants Ding-an-sich denn – wenn überhaupt – zu finden sei. Die Realisten, wie beispielsweise Friedrich Fries, beriefen sich auf die Dinge und Materie, so dass sie als Ausgangspunkt die Naturwissenschaft nahmen, um sich dem Ding-an-sich anzunähern. Die Idealisten hingegen beriefen sich auf die Ideen und den Geist selbst, so dass sie als Ausgangspunkt den Geist oder als höchste geistige Instanz Gott wählten, um das Ding-an-sich zu finden. Die Geisteswissenschaft stellte für sie das Instrument der Analyse und Protokollierung dar.
Der Streit um das Ding-an-sich rief eine große Kontroverse hervor und spaltete die Kantschüler in zwei große Lager mit inkommensurablen Standpunkten. Die Idealisten formten eine der wichtigsten und bekanntesten Strömung in der deutschen Geschichte, den deutschen Idealismus. Ihn haben philosophische Größen wie Johann Gottlob Fichte, Friedrich Schelling und nicht zuletzt Arthur Schopenhauer und Georg Hegel geprägt und ausgeformt.2

Zur besseren Vorstellung der einzelnen Ausrichtungen und Denker dient folgende Grafik:


Abbildung skizziert die einzelnen Ausrichtungen des deutschen Idealismus3

In der Nachfolge Kants ist insbesondere Johann Gottlob Fichte zu nennen. Fichte war von Kant inspiriert. Anfangs sehr begeistert, hielt er dessen Lehre bald für zu theoretisch. Fichte betonte ein pragmatisches Moment, das jede Philosophie haben sollte. So ging er von einer Ur-Tathandlung aus, die für ihn ein unauflöslicher Begriff der Philosophie war. Der hitzige Redner Fichte betonte in seinen Werken stets die Praxis und die Handlung, ein Tätigwerden – seine Reden an die deutsche Nation machten Epoche. Des Weiteren trat er für eine zwingende Untersuchung der Logik ein. Selbige müsse hinterfragt werden, da die Logik eine Notwendigkeit für wissenschaftliche Forschung, besonders relevant für den Fortschritt und somit für die Wahrheit selbst sei. Er forderte eine metaphysische Mitbegründung der Logik, und stellte drei Voraussetzungen auf. Diese waren: 1. Der Satz der Identität (Ich = Ich), 2. Die Antithese (Nicht-Ich = nicht Ich), 3. Limitation (Nicht-Bewußtes =Natur). Auf diese Art und Weise orientierte sich Fichte an der Dialektik bzw. dialektischen Methode, die im weiteren philosophiegeschichtlichen Verlauf von Hegel auf die Form von These, Anti-These und Synthese gebracht wurde. Fichte gehörte dem idealistischen Lager der Kantschüler an und verortete Kants Ding-an-sich im Bewusstsein.4
Einer der bekanntesten Aussprüche Fichtes aus Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1794: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist“ spielt auf das praktische Moment seiner Philosophie an.5 Dieser Ausspruch betont, dass der jeweilige Mensch eine gewichtige Rolle dafür spielt, für welche Philosophie man sich entscheidet, etwa darüber, ob man dem realistischen oder idealistischen Lager der Kantschüler angehört. Das Wichtigste war für Fichte jedoch, dass überhaupt ein Standpunkt ergriffen wurde, weil dies einen bzw. den Willensentschluss demonstrierte. Die Entscheidung für den Realismus, der die Ansicht vertrat, dass die Dinge aufeinander einwirken oder für den Idealismus, der die Ansicht hatte, dass alle Vorstellung Produkte des Geistes waren, war ein solcher Willensentschluss. Fichte im Speziellen und der Idealismus im Allgemeinen inspirierten Friedrich Schelling besonders stark.

Leben
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling6 wurde am 27. Januar 1775 als Sohn eines Pfarrers zu Leonberg in Württemberg geboren. Das Pfarrhaus bildete schon seit je her ein günstiges Klima in Bezug auf die Bildung, denn die Pfarrer waren ihres Berufs und Standes wegen gebildet und nicht selten die einzigen Gebildeten eines Dorfes. Insbesondere in Schwaben hatte sich gar ein „schwäbischer Pfarradel“ etabliert, dessen Kinder auf eine Lateinschule gingen. War diese absolviert, besuchte man ein höheres Seminar oder, falls vorhanden, ein Gymnasium. Wurde das sog. Landexamen bestanden, studierte man Theologie in Tübingen und wohnte auf herzogliche Kosten im Elite-bildenden Tübinger Stift. Einen solchen Bildungsweg sollte auch Friedrich Schelling erfahren. Er war ein exzellenter Schüler. Bereits im Alter von 10 Jahren legte er das Landexamen ab und wurde aus der Lateinschule entlassen. Nach zwei vergeblichen Anträgen zur Aufnahme in den Tübinger Stift, wurde dem 16jährigen Schelling auf Grund eines Sonderverfahrens der Eintritt gewährt. Im Stift hatte Schelling zwei außergewöhnliche Zimmergenossen, er wohnte und studierte Theologie zusammen mit Hegel und Hölderlin. Bereits 1792 erwarb Schelling den Magistergrad, indem er seine philosophische Dissertation über den Sündenfall einreichte. Im Weiteren interessierte sich Schelling für Kant, Spinoza und insbesondere für Fichte, dessen Schriften ihn sehr inspirierten. Nach seinem Studium tat er es seinen Freunden Hegel und Hölderlin gleich und arbeitete einige Jahre als Hauslehrer. In dieser Zeit veröffentlichte er 1797, nach intensiver Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, seine Ideen zu einer Philosophie der Natur. Dieses Werk war noch stark getragen von den Gedanken Fichtes und Schelling intendierte es als Fortsetzung des Fichte’schen Systems. Ein Jahr später veröffentlichte Schelling Von der Weltseele. Im selben Jahr wurde er als Professor nach Jena berufen und hielt neben Fichte dort Vorlesungen. In Jena kam Schelling auch mit dem Kreis um Friedrich Schlegel in Kontakt. Dieser Kreis wurde später als die „Jenaer Frühromantik“ bekannt und Schelling nahm in diesem Kreis bedeutenden Einfluss auf die Philosophie der Romantik. Zu diesem Zirkel junger Intellektueller zählten u.a. Persönlichkeiten wie die Brüder Schlegel, Dorothea Veit, Novalis, Johann Ludwig Tieck und Friedrich Hölderlin. Durch das neue Umfeld und die Inspiration, die er dort erfuhr, distanzierte er sich zunehmend von seinem Denkvorbild Fichte. 1799 in seinem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie wird erkennbar, was ein Jahr später in seinem Hauptwerk System des transzendentalen Idealismus deutlich ausgesprochen wird: die Wissenschaftslehre ist ein der Naturphilosophie lediglich nebengeordneter Teil. Somit vollzog sich ein deutlicher Bruch mit Fichte, der sich in den eigenen Denkimpulsen Schellings begründet sah. Es war ein Bruch, wie er sich auch zwischen Fichte und Kant ereignet hatte und später auch zwischen Schelling und Hegel ereignen sollte. 1803 wurde Schelling nach Würzburg gerufen und es folgte eine Phase, in der Schelling wenig schrieb und seinen Standpunkt weiterentwickelte. 1804 erschien seine Schrift Philosophie und Religion. Ab 1806 war Schelling Mitglied der Akademie der Wissenschaften und wurde sogar Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste in München. Im selben Jahr wurden nochmals Entfernung und Bruch mit Fichte deutlich, als Schelling eine hitzige Streitschrift gegen ihn veröffentlichte. Der früh berühmt gewordene Schelling wurde zunehmend von Hegels Schaffen aus der Öffentlichkeit verdrängt – 1806/07 erschien Hegels Phänomenologie des Geistes. Von 1820 bis 1827 lehrte Schelling in Erlangen. 1827 kehrte Schelling nach München zurück und beschränkte seine Tätigkeit auf das Halten von Vorlesungen an der neuen Universität München. Nach dem Tod Hegels 1831 erinnerte man sich an Schelling und 1841 erhielt er von Friedrich Wilhelm IV. einen Ruf nach Berlin, um dort dem Linkshegelianismus entgegenzuwirken. Doch waren seine Vorlesungen ein Misserfolg und so zog sich Schelling 1846 vollständig aus der Universitätstätigkeit zurück. Während Schelling mit der Ordnung seiner Schriften und der Ausarbeitung seines letzten Systems beschäftigt war, verstarb er am 20. August 1854 im Kurort Bad Ragaz in der Schweiz.7
Naturphilosophie
Mit seinen ersten, 1794 und 1795 verfassten Schriften Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt und Vom Ich als Prinzip der Philosophie ist Schelling noch ganz im Fichte’schen Denken verwurzelt. Das einzig wahre Prinzip der Philosophie ist ihm das absolute Ich, das aus sich selbst heraus die gesamte Welt der Objekte erzeugt. Ebenso vertreten die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus ein Jahr später noch die Ansicht, dass es nur zwei konsequente philosophische Standpunkte gebe, nämlich Spinoza zum einen und Kant-Fichte zum anderen. Zwischen diesen beiden müsse man wählen, um zu einem dezidierten Verständnis von Philosophie zu kommen. Aber bald genügte ihm die bloße „Subjekt“-Philosophie Fichtes nicht mehr, denn dieser hatte die Natur als philosophisches Objekt nahezu unbeachtet gelassen, indem er sie fast ausschließlich als Schranke oder als Mittel zum Zweck (der Abgrenzung) der menschlichen Persönlichkeit beleuchtete. Und da auch Kant nur die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gegeben habe, so wollte Schelling als Vereiniger beider auftreten, die klaffende Lücke zwischen Kants Materie und dem lebendigen Organismus durch eine „spekulative Physik“ schließen. Die Zeit schien dafür gekommen zu sein. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts hatten sich gravierende Fortschritte auf den verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft vollzogen. Die Leitfrage für Schelling war, auf welchen Nenner sich das Organische und Anorganische – also nach heutigem Verständnis die Biologie und die Physik – bringen ließen. Eine mathematisch-mechanische Naturerklärung schien ihm unbefriedigend, denn ihm schwebte eine „lebendige“ Naturauffassung vor. Der Kern von Schellings Naturphilosophie besteht darin, dass die gesamte Natur als ein großer Organismus vorgestellt wird und in einem zusammenhängenden System zu begreifen ist. Diese „Physik“ – getragen von einer konstitutiven Teleologie der Natur – verfährt spekulativ, d.h. Erklärungslücken des damaligen Wissenstandes der Naturwissenschaften werden durch Schellings eigene Spekulationen und Gedankenexperimente gefüllt.
Die Natur lasse sich nur verstehen, wenn wir sie als uns gleichartig, als Geist in der Natur auffassen. In dem großen, lebendigen Organismus der Natur wirken Kräfte, die im Wechselspiel stehen (Polarität). Seine Lehre verortet den Fortschritt von der unbewussten Natur hin zum Bewusstwerden (der Natur) oder dem Bewussten. Dabei orientiert er seine Architektonik an der Einteilung der Natur des Aristoteles, nach der die „tote Natur“ (Physik) die unterste Stufe der Natur bildet. Hierauf folgen die „Elemente“ (Chemie) und die „Lebewesen“ bzw. „beseelte Biologie“ also die Tiere und Pflanzen. Auf den beiden höchsten Stufen kommen dann die „Menschenkunde“ und schließlich das „Absolute“ oder „Göttliche“. In diesem Aufbau der Natur spielt nun die Polarität der Kräfte eine entscheidende Rolle, denn die Natur entwickelt sich mit bzw. durch ein Wechselspiel polarer Kräfte. Diese Polarität zieht sich durch alle Stufen von Schellings Einteilung der Natur. So stehen beispielsweise Anziehung und Abstoßung innerhalb der Physik im Wechselspiel, in der Chemie sind es Laugen und Säuren, die Biologie wird von den Polen Männlich- und Weiblichkeit dominiert, während auf der menschlichen Stufe der Natur Subjektivität und Objektivität einander gegenüberstehen. In seiner Naturphilosophie besitzt das Bewusste eine unbewusste Grundlage, nämlich die Natur selbst. Sie bewirkt das Unbewusste, d.i. die (sinnliche) Wahrnehmung. Nur auf Grundlage der Natur und der somit verbundenen Wahrnehmung kann ein Gedanke überhaupt gefasst oder gedacht werden und dies geschieht in einem Schritt vom Unbewussten hin zum Bewusstwerden. Aufbauend auf diesem Vorgang können Willensakte und Kulturinstitutionen greifen und letztendlich das Intellektuelle oder die Anschauung entwickelt werden. In dieser Verkettung etabliert Schelling das Herzstück seiner Philosophie, nämlich die Phantasie. Schelling spricht klar aus, dass die Künstler das Vorbild der Philosophen sein sollen, denn Philosophie ist – wie das Gemälde – ein Kunstwerk. So muss in seinen Augen die Wissenschaft dahin kommen, wo die Kunst schon immer war. Die Phantasie (Kunst) wird von Schelling als höchste Form des Geistes stilisiert und somit widerspricht Schelling der Lehre Kants, in der der Mensch keine Dinge selbst erschaffen kann.
Dies konnte nur Gott und auf diese Art und Weise hat er die Welt erschaffen. Schellings Mensch kann selbiges Gott mit Kraft seines Geistes, der Phantasie, gleich tun. (Vgl. Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 36, 43, 48, 51 f,
insbesondere 52 f, 54 ff, ferner Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 90,
außerdem Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie, S. 274 - 276.)

Die Philosophie Schellings fand insbesondere unter den Ärzten großen Anklang, da die Lebendigkeit im Vordergrund seiner Philosophie stand.8 Schellings Spätphilosophie, in der er eine positive, religiöse Philosophie entwickelte, wurde insbesondere von seinem Schüler Krause weiterverfolgt. Zu den Anhängern Schellings zählten unter anderem Henrik Steffens (1773 bis 1845), Karl Gustav Carus (1789 bis 1869), Adam Müller (1779-1829), sowie Joseph von Görres (1776 bis 1848).9
Philosophisch-praktische Schlussbemerkung
Schellings Werk ist heute sicherlich eines der am wenigsten präsenten Werke in der Philosophie und teilt so auch das Schicksal der meisten Vertreter der romantischen Schule und des deutschen Idealismus. Als Ausnahmen können nur Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel genannt sein und diese werden oftmals nur als Beiträge zur theoretischen oder praktischen Philosophie wahrgenommen und kaum unter ihrem Systemcharakter – geschweige ihrer Ausrichtung auf das Leben oder den Menschen. Anknüpfungspunkte für die romantische Schule gab es am ehesten in der Lebensphilosophie oder dem Existenzialismus, der sich auf die Rolle des Menschen und das menschliche Leben als solches konzentrierte. Hier sind wohl Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre, Camus und Jaspers zu erwähnen, die dieser Denkrichtung neue Impulse gaben und sie nachhaltig prägten. Die Frage ist, ob und was es gilt von der Romantik für uns zu bewahren.
Gegen Ende seines Buches macht Safranski uns auf eine Spannung zwischen dem Romantischen und dem Politischen aufmerksam:
„Die Spannung zwischen dem Romantischen und dem Politischen gehört zu der noch umgreifenderen Spannung zwischen dem Vorstellbaren und Lebbaren. Der Versuch, diese Spannung in eine widerspruchsfreie Einheit überführen zu wollen, kann zur Verarmung oder zur Verwüstung des Lebens führen. Das Leben verarmt, wenn man sich nichts mehr vorzustellen wagt über das hinaus, was man auch leben zu können glaubt. Und das Leben wird verwüstet, wenn man um jeden Preis, auch den der Zerstörung und Selbstzerstörung, etwas leben will, bloß weil man es sich vorgestellt hat. Das eine Mal verarmt das Leben, weil das Vorstellbare aufgegeben wird um des lieben Friedens willen; das andere Mal zerbricht es unter der Gewalt, mit der das Vorstellbare ohne Abstriche verwirklicht werden soll. Beides Mal hält man den Widerspruch zwischen dem Vorstellbaren und Lebbaren nicht aus und will ein Leben aus einem Guß. Ein solches Leben aber ist wohl doch nur ein romantischer Traum.“10
Zutreffend ist, dass Tagträumerei, die blind ist für bestehende reale Verhältnisse ist in der Politik nichts verloren hat. Eine solche Position ist anfällig für einen falsch motivierten Optimismus und kranke Ideologie, die auf eine Fehldeutung der Gegebenheit eines Landes, der Lebenssituation der Menschen und der Wirtschaft beruht. Romantik gehört sehr wohl in die Politik, wenn wir darunter eine visionäre Position verstehen, die nicht blind ist für gegebene Verhältnisse und so einen gesunden Optimismus zu Tage fördert, der sich nicht von schlechten Gegebenheiten demotivieren lässt, sondern Tatendrang in einem scheinbar kleinen oder stark beschränkten Handlungsrahmen verspürt. Ich denke solche Visionen sind der Weltfrieden, freier Handel oder eine Anhebung des weltweiten Lebensstandards, die Vermeidung oder Prävention des Einsatzes militärischer Mittel und die Bannung von Korruption aus der Politik. Und es ist eben eine solche Motivierung, die auch ein Spannungsverhältnis von Vorstellbarem und Lebbarem impliziert und dieses Spannungsverhältnis ist unauflösbar, denn das Leben selbst ist ein Spannungsverhältnis, das sich stets zwischen zwei Polen bewegt und in einer stets zu erneuernden Synthese entwickelt. Den Vollzug des Lebens gilt es durch das Finden einer Synthese, die sich als Handeln und Tätigwerden äußert, zu meistern oder zu bewältigen. Ein Leben, das sich nur an einem Pol abspielt übersteigert sich in ein Extrem und kann keine gesunde Haltung zum Leben und keine dem Leben zuträgliche Handlung hervorbringen. So könnten sich bestehende schlechte wirtschaftliche Verhältnisse auf das Leben insofern negativ auswirken, als dass man sich als nur noch reaktionär und passiv begreift; die Gegebenheiten werden als unveränderlich hingenommen und man beschäftigt sich ausschließlich mit Reaktionsstrategien und richtet demnach sein Leben aus. Andererseits kann man sich dazu versteigen alles für veränderlich zu halten und übersteigert sich einen Tatendrang der nicht nur schlechte, sondern auch gute Zustände oder Gegebenheit abschafft, zerstört oder verbannt. Dennoch ist es eine Illusion zu glauben, das Spannungsverhältnis von Romantischem oder Einbildungskraft und Realität könne vollkommen aufgelöst werden, es wäre „ein Leben aus einem Guß“ möglich. Leben ist die Kraft die sich zwischen zwei Extremen abspielt und tagtäglich fordert es uns dazu auf eine Entscheidung aus eigener Kraft zu fällen und unser eigenes Leben so zu gestalten. Begreifen wir uns als Personen, die sozial mündig und verantwortungsvoll mit ihrem Leben umgehen können und wollen, so sind wir zu aller erst uns selbst und danach auch unserem Gegenüber die Antwort auf die Frage: „Was will ich mit meinem Leben anfangen oder was erwarte ich von meinem Leben?“ schuldig. Die Binsenweisheit, dass das Leben kurz ist kennt jeder, doch verstehen tut er diese triviale Einsicht meist erst wenn es „zu spät“ ist, nämlich dann wenn man einen notwendigen Abstand in der Reflexion zu seinem Leben gewinnt, der leider meist erst durch fortgeschrittenes Alter, Krankheit oder andere Extremsituationen einsetzt. In einem als Konsum-, Spaß, Informations- und Wissensgesellschaft verschrieenen Sozial - Gefüge werden solche Reflexionen gern lächerlich gemacht oder als unnötig erachtet, da sie schnell als Spaßkiller, Gute-Laune-Verderber gebranntmarkt werden. Aber so gern man sich dieser Reflexionspflicht – denn eine solche haben insbesondere die Menschen der Wohlstandsgesellschaften des Westens gegenüber den Armen der dritten Welt – entzieht und sie vollkommen verdrängen möchte, so kommt sie doch bei vielen in fortgeschrittenen Alter als die sog. Midlifecrisis zum Ausdruck und es ist eine romantische Verklärung zu glauben man könnte und sollte sich der Reflexionspflicht entziehen.
Das Romantische ist aber auch eine Lebensnotwendigkeit in dem Sinne, in dem Safranski sie als „Mehrwert, der Überschuß an schöner Weltfremdheit, der Überfluß an Bedeutsamkeit“ charakterisiert und sie als die Neugier „auf das ganz andere“ begreift. Sei das Andere nun die Natur oder der Andere, das Fichte’sche Nicht-Ich11, es zwingt uns zu einer Auseinandersetzung und ist als die Herausforderung an das Leben oder des Lebens zu begreifen. Niemand kann ein Leben führen und sein Leben so gestalten, dass es nur am Realen orientiert wäre – gerade in einer Zeit in der die eigenen Lebensumstände als deprimierend empfunden werden und eine Unausgeglichenheit oder Unzufriedenheit nach sich ziehen. Verstehen wir „Weltfremdheit“ nicht als bloße Naivität, also als (negativ gemeinte) „Gutgläubigkeit und Lebensferne“, sondern als eine ursprüngliche, ureigene Lebensbejahung und Offenheit für das Neue, so ist sie unabdingbar. Eine solche Romantik treffen wir alle in unseren sozialen Kontakten und unserer Lebensgestaltung an. Gern werden Romantik und Verklärung mit der Liebe assoziiert – und dies ist ihr auch eigen – aber das Romantische gehört auch in die Lebensplanung, wenn wir hierunter den Entwurf des eignen Selbst als eine progressive Ausformung einer individuellen Vision verstehen. Würden wir einige Menschen nicht als „gute Freunde“ und andere als Ziele der eigenen Liebe wahrnehmen und „verklären“, sie also im gewissen Maße romantisieren, wäre das Leben nahezu unerträglich. Auch das eigene Leben muss romantisiert sein, wenn wir darunter verstehen uns als unseren eignen Lebensgestalter und Schöpfer zu fassen, als aktives Wesen. Und es ist eben der Kreislauf aus Reflexion / Entwurf des eigenen Selbst und aktivem Tätig sein und Tätig werden, der das erst ausmacht was wir als „Leben“ bezeichnen wollen – und eben das ist das Romantische was es zu bewahren gilt.

Anmerkungen
1 Schelling entwickelte ein umfassendes philosophisches System, wir beschränken uns hier auf eine rudimentäre Darstellung seiner Naturphilosophie.
2 Siehe hierzu: Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 25 ff.
3 Rekonstruktion einer Tafelskizze aus der Vorlesung Philosophie der Gegenwart im Sommersemester 2004 von Lutz Geldsetzer.
4 Vgl. Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 69 ff.
5 Siehe Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie, S. 266 f.
6 1812 geadelt.
7 Vgl. Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 85 ff, sowie
Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie, S. 271 ff.
8 Darüber hinaus ist wahrscheinlich auch die heutige Bezeichnung des Ärzteberufs als Kunst aus Schellings Philosophie entlehnt. Siehe Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 98.
9 Siehe hierzu Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 87 ff, ferner
Kirchhoff, Jochen: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, S. 80 ff.
10 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine Deutsche Affäre, S. 393.
11 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine Deutsche Affäre; München 2007, S. 73 f.


Literatur
Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken, Stuttgart 1992, S. 271 - 276.
Kirchhoff, Jochen: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 2000, S. 76 - 110.
Safranski, Rüdiger: Romatik. Eine Deutsche Affäre; München 2007.
Vorländer, Karl / Geldsetzer, Lutz (Hrsg.): Geschichte der Philosophie, Bd.3,1, Leipzig 1975, S. 81 - 103.
http://www.jena.de/sixcms/detail.php?id=10896 (24.7.08)
http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Joseph_Schelling (24.7.08)

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