Sonntag, Mai 25, 2008

MONOTHEISMUS DER VERNUNFT - POLYTHEISMUS DER KUNST #[Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus]

in Hegels Hand

eine Ethik. Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat –, so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, daß die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.

Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind: Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.

Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.

Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft [⇐235][236⇒] und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist's, was wir bedürfen!

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein. ([⇐236] in Quelle : Hegel 1, Ffm)

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 234-237.
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Kategorien:
Deutscher Idealismus

siehe auch:
Theorie der Romantik, reclam1808, 54ff dort als Autoren: Hegel/Schelling/Hölderlin
der Text entstand wohl 1 7 9 7 in Ffm & war bis 1917 unbekannt; T I T E L ?
[ ... ] erfunden von Rosenzweig


Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus


Groß muss die Freude bei Franz Rosenzweig gewesen sein, als er 1913 bei einer Auktion der Königlichen Bibliothek in Berlin ein doppelseitig mit der Handschrift Hegels bedecktes Blatt Papier erwarb. Glaubte er doch, mit diesem Papier eines der Gründungsdokumente des deutschen Idealismus gefunden zu haben, über dessen Frühgeschichte seinerzeit noch kaum Kenntnis bestand. Infolge dessen betitelte Rosenzweig seinen Fund auch »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Bei einem genaueren Blick auf den Inhalt des überschwänglich betitelten Fundes erweist sich jedoch schnell, dass der Titel mehr verspricht, als der Inhalt letztlich halten kann. Denn wenn man diesen einmal beiseite lässt, dann handelt es sich bei dem Dokument in erster Linie um nichts anderes als ein Fragment, welches eine Reihe von aneinander gereihten und zum Teil sehr radikalen Gedankenansätzen enthält, die in keiner Weise richtig durchdacht, geschweige denn begründet werden. Obwohl der Text eine klare programmatische Tendenz aufweist, kann von einer Systematik keine Rede sein und auch die Ehre, das älteste Dokument aus der Frühzeit des Idealismus zu sein, wird dem zwischen 1795 und 1797 entstandenen Text nach Ansicht einiger Rezensenten von einem noch älteren Fragment Hölderlins (»Urtheil und Seyn«) streitig gemacht. Auch die Frage nach der Autorenschaft konnte im Verlauf der Rezensionsgeschichte des Textes nicht geklärt werden. Die Elemente des Textes lassen sowohl Hegel, als auch Schelling oder Hölderlin als Autoren in Frage kommen, vielleicht sind auch alle drei an der Autorenschaft beteiligt und haben das ›Ich‹, mit dem der Autor agiert, als eine synthetische Einheit geschaffen – prinzipiell ist jedoch jeder als Autor denkbar, der sich in ihrem Kreis bewegte, über ein fundiertes philosophisches Hintergrundwissen verfügte und insbesondere mit den Werken Kants, Fichtes und Schillers vertraut war. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) dieser Ungereimtheiten hat das Dokument seit seiner ersten Publikation bei den Geisteswissenschaftlern unterschiedlicher Fakultäten eine begeisterte Aufnahme gefunden und zu einer schier unüberschaubaren Flut von Publikationen geführt. Daran hat sicherlich Rosenzweigs Titelwahl einen nicht zu unterschätzenden Anteil und man könnte sich der Meinung Safranskis anschließen, der den Text schlicht für überbewertet hält. Aber auch wenn er nicht die erhoffte Aufklärung über die Frühgeschichte des Idealismus gebracht hat und die erhaltene Aufmerksamkeit in keinem Verhältnis zu seiner eigentlichen Bedeutung stehen mag, stellt er dennoch ein bemerkenswertes Dokument dar, welches den damaligen Zeitgeist und einige der Denkrichtungen der Frühromantiker um Hegel, Schelling und Hölderlin auf eine interessante Weise widerspiegelt.

Der forsche Ton, mit dem bestehende Verhältnisse angeklagt und weit reichende Änderungen gefordert werden, stellt ein gutes Zeugnis für den damals im Geiste der französischen Revolution aufgekommenen Drang der Frühromantiker nach Freiheit und Veränderung dar. Die Leichtigkeit, mit der an den ehrwürdigen Institutionen Staat und Kirche und aller Art Tradition gerüttelt wird, erinnert an Schillers Wort: ›Der Mensch ist nur da Mensch wo er spielt‹ – und in der Tat steckt der Autor schon fast leichtfertig spielerisch mit Riesenschritten das Feld ab, dass er zu wandeln sich vornimmt.

Der erste Schritt führt zur Philosophie. Hier gedenkt der Autor, ausgehend von zwei der drei praktischen Postulate Kants (das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele) ein vollständiges System aller Postulate beziehungsweise Ideen aufzustellen und damit die Philosophie zu vollenden. Als erste Idee bezeichnet er, ganz nach Fichte, die Vorstellung des Selbst oder des Ich als einem absolut freien Wesen, das sich kraft seiner Freiheit selbst Gesetze gibt und beim Übertritt vom Nichts ins Dasein eine ganze Welt mitbringt. Dieser Gedanke der Entstehung einer Welt mit dem freien Ich aus dem Nichts heraus ist insofern bedeutsam, als die Frühromantiker glaubten, dass die von ihnen überall wahrgenommene Entfremdung und Entzweiung des Lebens auf allen Ebenen sich in dieser Welt des Ichs aufheben kann. Dieser Drang nach einer Einheit des Lebens zeigt sich bereits beim nächsten Riesenschritt, den der Autor übergangslos von der Philosophie zur Physik vollführt. Hier stellt sich dem Autor nicht die Frage, wie der Mensch angesichts einer determinierten Natur beschaffen sein muss, sondern, getreu der ersten Idee, welche Beschaffenheit die Welt angesichts der absoluten Freiheit des Menschen aufweisen muss. Die Physik hatte sich seit dem 17. Jahrhundert immer stärker von der Philosophie gelöst und hatte den Weg der Empirie und der experimentellen Vorgehensweise eingeschlagen. Der Autor möchte die Physik, die in seinen Augen nur langsam voranschreitet und unserem schöpferischen Geist wenig zu bieten hat, wieder in den Schoß der Philosophie zurückholen. Der Grundgedanke ist der, die Erfahrung, die sich als Gegenstand der Physik von den Ideen der Vernunft entfernt hat, wieder mit der Vernunft zu vereinen. Aus dieser Vereinigung verspricht sich der Autor eine Physik im Großen, die beflügelt zu großen Erkenntnissen gelangen kann. Worin die Größe einer durch die Ideen der Philosophie geleiteten Physik jedoch bestehen könnte und wie sie der Autor sich vorstellt, bleibt ungesagt und weniger als angedeutet – wie im Rausch springt der Autor weiter zum ›Menschenwerk‹, unter welchem er in erster Linie Staat und Religion versteht. An dieser Stelle zeigt sich deutlich der Einfluss Friedrich Schillers, dessen 1795 erschienenen »Briefe über die aesthetische Erziehung des Menschengeschlechts« einen bleibenden Eindruck auf viele Frühromantiker hinterlassen hat. Diese Briefe stellten einen Versuch dar, das Scheitern der französischen Revolution auf humanistischer Ebene zu erklären und dabei auch einen Ansatz vorzustellen, wie das verfehlte Ziel auf anderem Weg zu erreichen ist.

In diesen Briefen hatte Schiller den modernen Staat mehrmals mit einem mechanischen Uhrwerk verglichen, der in seinem abstrakten Funktionieren seinen Bürgern fremd bleibt.1 Auch der Autor des Systemprogramms sieht den Staat als einen Mechanismus, der seine Bürger zwangsläufig wie Funktionseinheiten behandeln muss. Über einen solchen Staat will er hinaus und so fordert er dann auch kurz und knapp, dass der Uhrwerk-Staat aufzuhören hat. Der Staat ist also abzuschaffen – aber mit welcher Alternative? Soll ein sich selbst organisierender Anarchismus oder etwa eine Demokratie an die Stelle des Despotismus treten? Auch hier bleibt der Autor dem interessierten Leser eine Antwort schuldig; er fährt fort, in dem er ankündigt, die Prinzipien einer Geschichte der Menschheit aufstellen zu wollen, welche wiederum einen Versuch zur Umstülpung aktueller Verhältnisse darstellt. Vor allem die Vernunft heuchelnden Priester sollen von ihrem ehernen Thron gestoßen und der Jenseitsglaube der christlichen Religion umgestürzt werden, mit dem Ziel, die erste Idee in jedem Individuum auch auf gesellschaftlicher und religiöser Ebene umzusetzen – als die »[a]bsolute Freiheit aller Geister, die […] weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen«.2 Hier wird der Einfluss von Fichtes Philosophie offenbar, der „in Gott“ (nichts als M.R.) die lebendige und wirkende moralische Ordnung gesehen hatte. Diese Ordnung besteht in jedem Menschen als das Sittengesetz und dieses Sittengesetz ist die einzige Autorität, die im Raum der Freiheit des Ichs noch verbleibt. Diese innere moralische Ordnung des Menschen gegen alle Widerstände auch in der Umwelt herzustellen und somit Mensch und Umwelt, Ich und Nicht-Ich in Einklang zu bringen, kann als eines der vorrangigen Interessen der Frühromantiker und damit auch des Autors des Systemprogramms geltend gemacht werden. Die alles vereinigende Idee soll dabei die Idee der Schönheit sein. Auch dieser Gedankengang trägt die Prägung Schillers, der in den oben bereits erwähnten Briefen diese vereinigende Wirkung der Idee der Schönheit bereits vorgedacht hatte. Die absolute Freiheit, die dem Menschen zufallen soll, kann sich nur infolge der vereinigenden Wirkung der Idee der Schönheit einstellen. Schiller sieht das ästhetische Urteil als frei von den Zwängen der materiellen Welt und der sittlichen Ordnung - es ist nicht bestimmt, sondern auf eine unendliche Weise bestimmbar und somit sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne frei. Der ästhetische Zustand ist damit auch der fruchtbarste hinsichtlich Erkenntnis und Moralität und um diesen fruchtbarsten Zustand in möglichst allen Lebensbereichen zu etablieren, fordert der Autor des Systemprogramms auch, dass das ästhetische Urteil alle anderen Urteile leiten oder zumindest begleiten soll. Dass der Poesie im weiteren Sinn der Wert verliehen wird, der Idee der Schönheit zu korrespondieren und allen übrigen Künsten und auch Wissenschaft und Philosophie überlegen zu sein, kann sicherlich auf Hölderlins zurückgeführt werden – der, wenn er kein Autor war, denselben zumindest beeinflusst haben dürfte.

Im letzten Schritt kündigt der Autor eine Idee an, die mit der Niederschrift im Systemprogramm das erste Mal die Bühne des geistigen Lebens betritt – zumindest wird dies im Systemprogramm behauptet. Um den Mangel an sinnlicher Religion – sowohl bei dem ›großen Haufen‹ als auch bei den Philosophen – auszugleichen und einen »Monotheismus der Vernunft und des Herzens [und einen] Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst«3 zu etablieren, schlägt der Autor die Errichtung einer Mythologie der Vernunft vor. Dabei sollen die leitenden Ideen mythologisch und die Mythologie vernünftig werden, um auf der einen Seite die Ideen für das Volk interessant zu machen und auf der anderen eine Mythologie zu errichten, für die der Philosoph sich nicht schämen muss. Dieser Gedankengang kann jedoch nicht die Originalität vorweisen, die der Autor für ihn beansprucht. Denn er geht eigentlich auf Immanuel Kant zurück, der ihn in ähnlicher Form bereits in dem philosophischen Entwurf »Zum ewigen Frieden« und vor allem in der kleineren Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« gedacht und darauf hingewiesen hatte, dass sich die Elemente einer Volksreligion, die im Systemprogramms erwähnt werden, bereits im antiken Griechenland finden lassen.4 Von einer solchen Mythologie der Vernunft verspricht sich der Autor die höchstmögliche Stufe gesellschaftlicher Einheit und Freiheit. Gebildete und Ungebildete sollen sich die Hand reichen, bisherige gesellschaftliche Schranken fallen und Voreingenommenheiten verschwinden und eine allgemeine Freiheit und Gleichheit aller Geister hervorbringen. Mit diesem letzten Schritt schlägt der Autor einen Versuch vor, die Einheit, welche die Idee der Schönheit auf der Ebene der Ideen herbeizuführen in der Lage sei, auch auf gesellschaftlicher Ebene herzustellen. Dieser Versuch bewegt sich wiederum im Geiste der ›Briefe‹ Schillers, welcher zuallererst der Idee der Schönheit eine solchermaßen umfassende vereinigende Wirkung zugedacht hatte. Im Gegensatz zu Schiller distanziert der Autor des Systemprogramms sich jedoch nicht von der französischen Revolution; er begnügt sich nicht damit, auf eine allmähliche, innere Reform der Denkweise hinwirken zu wollen. Im Systemprogramm wird explizit der Umsturz gefordert und zur Andeutung des Endziels auf gesellschaftlicher Ebene dient die Parole der französischen Revolution, so dass man davon ausgehen kann, dass der Autor auch handfestere Methoden beim Umsetzen seiner Ideen gedanklich nicht ausgeschlossen hat.

Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus zeigt sich sicherlich in seinem agitativen Charakter am ehesten vom Geist der frühen Romantik geprägt. Mit spürbarer Wut werden Missstände angeprangert und mit spielerischer Leichtigkeit umfassende Veränderungen angekündigt, wie etwa die Revolution etablierter Wissenschaften oder die Errichtung einer neuen Religion. Die Kühnheit der Thesen wirkt mitreißend und die immer wieder auftauchende Unbekümmertheit ansteckend – dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gedanken des Systemprogramms im Grunde rationalistisch sind.

Safranski sieht in dem Dokument in erster Linie ein ›volkspädagogisches Projekt‹, das dazu dienen soll, die sonst unverdaulichen Ideen durch eine mythologische Einkleidung dem Volk schmackhaft zu machen. Denn der Autor glaubte sich, so Safranski, geistig weit über dem Volk stehend und sucht nach Mitteln, um selbiges im Sinne der Ideen zu erziehen.5 Der Mythologie kommt im Systemprogramm in der Tat in gewissem Sinn die Rolle von Schmuck zu und dennoch erfüllt sie eine wichtige Funktion: Indem sie die abstrakten Ideen versinnlicht, wirkt sie als eine auf gesellschaftlicher Ebene wirkende verbindende Kraft. Als eine solche Kraft kann sie jedoch nicht nur in eine Richtung wirken – und hier greift Safranskis Urteil vielleicht ein wenig zu kurz: Denn durch eine Mythologie der Vernunft würde, gesetzt, eine solche wäre geschaffen, nicht nur das Volk zur Vernunft erzogen werden, sondern der Philosoph auch zur Mythologie. Diese Erziehung beschränkt sich nicht darauf, den Gedanken äußerlich eine andere Form zu geben. Indem der Autor des Systemprogramms eine solche Erziehung auch des Philosophen für die Einstellung einer Einheit für notwendig erklärt, scheint es so, als habe die Mythologie doch einen Wert, der über den des bloßen Tands hinausgeht: denn die Klugheit, die dem Volk fehlt kann nur in ihrer Verbindung zur Mythologie und zur Schönheit eine Einheit stiften. Die Mythologie erhält somit den Status eines Bindegliedes zwischen der Vernunft und der Idee der Schönheit und als solches ist sie, bedenkt man die vereinheitlichende Macht dieser Idee, auch für den Philosophen vonnöten und zwar nicht nur als ein Mittel, um von anderen wahrgenommen zu werden, sondern als Element des Denkens selbst. Indem das Denken der Ideen mythologisiert wird, wird es also auch ästhetisiert und käme somit, gesetzt, es gäbe einen graduellen Übergang, dem höchsten Akt der Vernunft, der nach Meinung des Autors des Systemprogramms nur ein ästhetischer Akt sein kann, näher.

Mit dem Mythologiebegriff, den Schleiermacher wenige Zeit später prägte, hat die Mythologie der Vernunft natürlich wenig zu tun. Sie ist kein ›Fenster ins Unendliche‹, sondern ›nur‹ ein Mittel, um die Idee der Schönheit auf gesellschaftlicher Ebene zur Wirkung zu bringen. Umgesetzt worden ist das Systemprogramm nie und auch eine Mythologie der Vernunft ist in der Form nicht geschaffen worden, auch wenn es später, bei Nietzsche und Wagner noch einen ähnlichen Versuch gegeben hat.

Ob das Fragment nun das Werk Schellings, Hölderlins oder Hegels ist, ob es ein Exzerpt aus einem Brief oder einer exakteren, systematischeren und mittlerweile verlorenen Abhandlung darstellt, das Ergebnis einer durchzechten Nacht präsentiert oder als Manifest gedacht war, spielt eigentlich keine so große Rolle. Fest steht, dass es einen einzigartigen Einblick in die Denkweise der Frühromantiker erlaubt und auf die spätere Entwicklung der drei mutmaßlichen Autoren verweist – und allein schon deshalb lohnt sich eine Lektüre des Inhalts des gefalteten Blattes allen offen gebliebenen Fragen und formalen Unklarheiten zum Trotz auch heute noch.


29.05.2008 Autor: Sebastian Bock






Quellen:


Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus … http://www.zeno.org/

F.-P- Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989;

R. Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.

1 Hansen, 352;

2 Systemprogramm

3 Systemprogramm;

4 Hansen, 466–468;

5 Safranski, 154-155;

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