Für
die Argumentationstheorie brauchen wir eine Theorie der Subjektivität, die das
menschliche Subjekt so beschreibt, dass es vernünftigen Argumenten zugänglich
ist. Hier gibt es eine fatale Alternative:
Entweder wir verstehen vernünftige Argumente so, dass sie subjektinvariant
gelten. Dann hat die Argumentationspraxis und ihre Theorie mit subjektiven
Prägungen von Thesen und Argumenten nichts zu schaffen, kann immer nur
appellieren, dass davon Abstand genommen wird. Oder die Subjektivität wird
anerkannt und in der Argumentationspraxis berücksichtigt. Dann kommen wir
da nicht mehr heraus und landen in der Sackgasse des Relativismus. (Es gibt
keinen relativistischen Geltungsbegriff, das ist verbrämte Willkür.) Eine
Theorie der argumentativen Subjektivität sollte diese Alternative
unterlaufen. Subjektivität sollte
anerkannt und erkannt werden, aber als etwas
Änder- und Überwindbares. Die
subjektive Prägung der Argumente ist nicht das letzte, sondern nur gleichsam
das erste Wort. ‚Argumentative Subjektivität’ ist die zur Transsubjektivität
begabte subjektive Seite des Menschen, der auf Argumente setzt. Sie ist die
sich in der Person reflektierende, die werdende Vernunft.
2. Die subjektive Seite der Theorie
Theorie,
wenn sie pragmatisch aufgefasst wird, also als Orientierung im Handeln, hat zwei Seiten, eine Außen- und eine Innenseite.
Die Außenseite ist die Darstellung von Unterschieden und Zusammenhängen im
Praxisfeld. Das ist die Orientierungsfunktion: Die in dieser Funktion bewährte
Theorie gibt dem Subjekt das Vertrauen, sich in der Praxis zu betätigen.Die Innenseite der Theorie ist die Darstellung unserer selbst, die wir daraus Orientierung schöpfen. (Beispiel einer Landkarte. Sie stellt „uns“ dar: z.B. insofern sie das Territorium in einem für uns überschaubaren Maßstab bringt; indem sie optische Marken (Wasserläufe, Straßen, Waldgebiete) darstellt – nicht etwa olfaktorische (gut für Hunde) oder akustische (gut für Fledermäuse).
Soweit wir relevant unterschiedliche Personen bzw. Gruppen sind, können unsere Theorien auch noch markanter „uns“ in unseren jeweiligen Subjektivitäten darstellen.
3. Das Subjekt als „System“
Das
Subjekt „besteht“ aus unterscheidbaren Teilen, die – beim Erwachsenen – in
regelhafter Weise interagieren. Grundlage möglicher Stabilität ist das Selbstverhältnis, d.h. die Möglichkeit
des Subjekts, sich auf sich selbst zu beziehen, sich zu seinen eigenen
Zuständen zu verhalten (die eigenen Gefühle, Meinungen, Überzeugungen
wahrnehmen und zu erhalten oder zu ändern). Insofern in diesem Selbstverhältnis
die Ziele und Handlungen entworfen, initiiert und
kontrolliert werden, sind auch die Handlungen nicht bloß äußerliche, objektiv
wirksame Sachverhalte, sondern gibt es eine Innensicht der eigenen Vollzüge. Ich erfasse mich (Je-moi bei
Mauss, I-me bei Mead). Die Innensicht wird modifiziert, erweitert, korrigiert durch die Außensicht, die das andere Subjekt in der Interaktion heranträgt. Das Subjekt bildet sich dialogisch-interaktiv im Selbst- und Fremdverhältnis, im Gelingen und Misslingen von Zweckverfolgung, Selbstverwirklichung und Anerkennungssuche.
(PS: Das Andere, Fremde ist u.U. nicht leicht als „ein Du“, ein Gegenüber, zu erfassen: Menschen aus anderen Kulturkreisen sind mitunter sehr fremd; und Hirsche oder Falken auch)
4. Der Habitus
Das
Subjekt erhält seine individuelle Besonderheit durch sein Leben unter besonderen
Bedingungen – geographischen, klimatischen, kulturellen, epochalen,
biographischen Umständen – bzw. durch seine praktisch-theoretische Auseinandersetzung
mit seinen Bedingungen und durch die Verinnerlichung der Resultate dieser
Auseinandersetzungen. (In dieser Besonderheit ist es „Individuum“)Subjektive Lebensführung und Orientierungsbildung sind im (voll sozialisierten) Subjekt habituell: Das Subjekt entwickelt durch äußere und innere Festlegungen ein Gerüst von Gewohnheiten des Handelns, Verhaltens, Empfindens, Überlegens, Verarbeitens. Diese Gewohnheiten, die auch Leib und Körper gestalten, sind der Habitus (Aristoteles, Gehlen, Bourdieu). Zum Habitus gehört insbesondere der gewöhnliche Erwerb von Meinungen und die subjektspezifischen regulär eingeforderten und/oder befriedigten Bedürfnisse, Wünsche, Interessen.
Das ganze Inventar des Habitus ist verkittet, vereinheitlicht und gehärtet durch Emotionen. Beim voll sozialisierten Menschen ist die „spontane Stellungnahme“ nicht bloß kognitives Urteil, sondern ist getränkt mit Gefühlen der Richtigkeit/ Falschheit.
5. Das Orientierungssystem
Das
Subjekt ist darauf angewiesen, in seinem Gesichts- und Aktionskreis orientiert
zu sein. Deshalb erlernt und übernimmt es Theorien und forscht bei Bedarf
selber weiter. Die Orientierungen, die es erwirbt, müssen einerseits zu seinen Besonderheiten passen,
müssen aber andererseits auch richtige
Orientierungen sein. Es ist also eine Zweigleisigkeit im Orientierungsbedürfnis:
Das Subjekt sucht sich selbst. Aber es braucht auch die Offenheit des Objektiven
(und zwar sowohl im deskriptiv-technischen als auch im normativ-sozialen
Bereich).Die Theorien, mit denen das Subjekt sich orientiert, bilden ein Subsystem, das ”Orientierungssystem” (OSY). Das OSY enthält alles, an dem das Subjekt sich wirklich orientiert, also die angeeigneten Teile des Wissens und der Endoxa, die eigenen Erfahrungen, die Glaubensüberzeugungen usw. Das OSY ist strukturiert. Von Bedeutung für die Argumentationspraxis sind Abstufungen hinsichtlich Relevanz, Geltung und interner Stabilisierungsfunktion. Gewöhnlich ist das nicht systematisch und widerspruchsfrei durchgeführt (der „homo oeconomicus“ ist eine – bedenkliche - Idealisierung). Dennoch kann das OSY als System aufgefasst werden, insbesondere insofern es als Filter für evtl. „Neuerwerbungen“ wirkt („Neue Orientierungen“ müssen zu ihm passen).
6. Die Sinnebene
In
der Struktur des OSY gibt es eine höchste, äußerste Schicht, die Ebene des Sinns. Hier haben wir
quasitheoretische Orientierungen, die das Vertrauen in Leben und Welt im Ganzen
artikulieren. Insofern das OSY von Sinngebung überformt ist, heißt es ‚Sinngehalt‘. Der Sinn ist
Formprinzip für die einzelnen Orientierungsaneignungen und –bildungen. Die
subjektive Besonderheit ist gelebter, individuell ausgeprägter Sinn.
7. Rahmenstrukturen
Die
Besonderheit des Subjekts stellt sich in den Orientierungen des OSY dar als ein
spezifisches Gefüge von Als-Strukturen
(s.u. Kap. 5: Rahmen).(Illustration: Dir ist der Stierkampf Tierquälerei, mir eine exotische Unterhaltung, ihm eine kulturell verankerte Praxis etc.) Diese Als-Strukturen hängen subjektspezifisch jeweils mit anderen zusammen und stabilisieren sich gegenseitig.
Das Gefüge der Als-Strukturen resultiert in spezifischen Denk- und Handlungskonsequenzen angesichts bestimmter Situationen (die schweren bzw. harten und die leichten bzw. weichen Inferenzen).
8. Die Position
Das
OSY erweist sich ständig als unzulänglich und wird angesichts relevanter Fragen
und Probleme exhauriert, also mit thetischer Theorie ergänzt und geschützt. Die
thetische Theorie wird habitusgemäß gebildet. Diese Bildung geschieht in
kleineren und größeren Forschungsprojekten bzw. -programmen, in denen das
Subjekt praktisch und theoretisch forscht. Der jeweilige Stand solch eines
Forschungsprojekts artikuliert sich (immer relativ zu einer Frage, zu einem
Problem) als ”Position”. ‚Position’
ist der für die Argumentationspraxis relevante Terminus. Es ist eine vom
Subjekt gehaltene Theorieformation zu einem bestimmten Problem. Es ist der
“Ort”, der u.U. kontrovers ist, aus ihm werden Thesen, Argumente und Nachfolgerthesen
generiert.
9. Distanzierung
Trotz
seiner habituellen und im OSY theoretisch gefassten Verfestigungen bleibt das
Subjekt plastisch: Es ”wird” in seinen Lebensäußerungen, es entwickelt sich,
gestaltet sich, wird gestaltet. Prinzipiell behält es dabei die Möglichkeit,
sich von seinen Festlegungen mehr oder weniger weit zu distanzieren. Diese Distanzierung, d.h. die Möglichkeit,
von den bisherigen Denk- und Lebensgewohnheiten abzusehen, sie zur
Disposition zu stellen, neue und vielleicht bessere Orientierungen zu
ergreifen, das ist die Gestalt, in der die Freiheit
in der Argumentationspraxis auftritt. Die Distanzierung kann die Sinnebene aktivieren. Wo wirklich von bewährten Orientierungen Abstand genommen wird, kommt das Vertrauen zur Geltung.
SinnPraxis im Dezember 2013. An English version of this post shall be worked at ...
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