Dienstag, Oktober 28, 2008

Keimendes Neues im Alten

Franz Nahrada

könnt man so beschreiben: Jahrgang 1954, lebt in der Vorstadt von Wien, versucht gleichzeitig mit einem kleinen Hotel ökonomisch zu überleben und daneben ein Forschungsinstitut für Globale Dörfer aufzubauen. Seit seiner Jugend beschäftigt ihn das Problem einer irrationalen Gesellschaftsform, in der sämtliche Potentiale von Reichtum und Bildung offensichtlich nur dazu da sind, die Massenproduktion von Unglück zu beschleunigen. Er studierte Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft und was so am Weg lag, um festzustellen dass der offizielle Wissenschaftsbetrieb kein wirkliches Wissen vermittelt, sondern nur höchst zweifelhafte Einstellungen für elitäres Betreuungsbewusstsein nicht hinterfragter Zustände. Mike Roth aus Konstanz eröffnete ihm Mitte der Siebziger mit seinem teach-in “Kapitalanalyse als Wertformanalyse” den entscheidenden Zugang zum Begreifen einer verkehrten Realität.
Heute: marx101.blogspot.com
An das lagerten sich viele Denkstränge an, unter anderem der der Krisis.

Dem Keimformgedanken schloss er sich 1987 an, paradoxerweise nach seinem ersten Aufenthalt in den USA, wo das auf unterschiedlichen Ebenen versuchte Vortasten in eine neue soziale Realität auf wesentlich größeres Interesse stößt als in Mitteleuropa, wo man hauptsächlich weiß was alles nicht geht. Seine Kernthemen und zentralen Motive sind Raumgestaltung als Gesellschaftsgestaltung und elektronische Kommunikation. Beides geht auf tiefe persönliche Erfahrungen in den 80ern zurück, das eine aus Erlebnissen in Griechenland an der Schwelle zum Massentourismus, das andere als Entwicklersupporter für HyperCard bei Apple Computer und eigene Projekte in Richtung Kunst und Wissensorganisation.

Daraus amalgamierte sich das Designprojekt “globales Dorf”, das eine autonome und reichhaltige wie nachhaltige Lebensgestaltung von Individuen und Gemeinschaften unter freigewählten Kulturmustern mit globaler Kooperation an den technologischen Grundlagen dieses Lebens verbinden soll. Das führt zu einer Myriade an Projekten, bei denen gegenwärtig die “virtuelle Universität der Dörfer” — synchrones Lernen in bzw. zwischen lokalen Gemeinschaften über multimediale Verbindungen — im Vordergrund steht. Um das mittlerweile in 40 Jahren aufgehäufte Papier unterzubringen und in der richtigen Gemeinschaft zu leben sucht er nun den richtigen Ort — ein abgelegenes Kloster in den Bergen und vielleicht auch in einem angenehmen Klima wäre der richtige Ort.

Mittwoch, September 03, 2008

Schelling

Ein Versuch über den deutschen Romantiker und Idealisten Friedrich Schelling
Wolfgang Schaffarzyk

„… je mehr man von der Organisation des Universums versteht,
je reicher, unendlicher und weltähnlicher wird uns jeder Gegenstand.“
– Friedrich Schlegel

Vorwort
Blickt man auf die Geschichte Deutschlands zurück, sticht die Zeitspanne des 18. und 19. Jahrhunderts deutlich heraus. Scheinbar nie zuvor lebte eine so große Zahl bedeutender Persönlichkeiten in einer so engen Zeitspanne zusammen. Aus heutiger Sicht stellt sie gleichsam einen Ballungsraum der Kulturgeschichte dar und dies nicht nur von der Warte der Philosophie, sondern auch aus dem Blickwinkel der Literatur- und Naturwissenschaft. Die Werke Goethes und Schillers sowie der gesamten deutschen Romantik – allen voran Novalis, der im Moment eine Renaissance im anglo-amerikanischen Sprachraum erfährt – sind heute unumstrittene Weltliteratur. Immanuel Kant und die deutschen Idealisten bilden eine eigene Epoche innerhalb der Philosophiegeschichte; sie sind die Begründer des modernen menschlichen Geistes, Verstandes und des modernen personalen Selbstverständnisses. Neben Aristoteles sind Kant und Hegel die großen Systemphilosophen, die heute in jedem philosophiegeschichtlichen Lehrbuch und jeder Bibliothek gängiges Inventar sind. Allein um den Einfluss und die Wichtigkeit der Lehre und Methode Kants auf die heutige Philosophie und Wissenschaft zu erläutern, wird bis heute philosophisch geforscht und publiziert. Die vorliegende Arbeit kann nur ein Schlaglicht werfen. Daher soll der Fokus auf dem durch Kant inspirierten deutschen Idealismus und insbesondere auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, dem Mitbegründer der Romantik, liegen.1
Vordenker
Immanuel Kant vereinigte die beiden Strömungen von Rationalismus und Empirismus der Philosophie zu einer Synthese. Er wollte ein umfassendes System kreieren und begründete – wie er es selbst nannte – die kritische oder transzendentale Methode. Diese Methode sollte den Zweck verfolgen herauszufinden, wie unsere Erkenntnis von den Dingen schlechthin möglich ist. So ging es ihm um die systematische Aufdeckung von Axiomen des Denkens und die philosophische Erkenntnis von den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Der letzte Stand der Dinge – die Mechanik Newtons und das kopernikanische Weltbild – war für ihn die letzte Annäherung an die Wahrheit und somit war auch jeglicher Fortschritt als eine konsequente Annäherung an die Wahrheit zu deuten. In dieser Art und Weise verstanden Kant und die Kantianer den Fortschritt der Wissenschaft im Speziellen und des Wissens im Allgemeinen. Für Friedrich Schelling lagen die Dinge anders. Er sah in der von Kant und seinen Schülern konstatierten Wahrheit und der überstarken Betonung und Untersuchung des Verstandes nichts anderes als eine Verklärung. Bezüglich der Frage der Interpretation von Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, waren sich die Nachfolger Kants uneinig. So fand eine Spaltung des Lagers der Kantschüler statt, zu denen, wie fast jeder gebildete Mann dieser Zeit, auch Schelling zählte. Die Schüler spalteten sich in ein idealistisches und ein realistisches Lager unter der Berücksichtigung der Frage, wo Kants Ding-an-sich denn – wenn überhaupt – zu finden sei. Die Realisten, wie beispielsweise Friedrich Fries, beriefen sich auf die Dinge und Materie, so dass sie als Ausgangspunkt die Naturwissenschaft nahmen, um sich dem Ding-an-sich anzunähern. Die Idealisten hingegen beriefen sich auf die Ideen und den Geist selbst, so dass sie als Ausgangspunkt den Geist oder als höchste geistige Instanz Gott wählten, um das Ding-an-sich zu finden. Die Geisteswissenschaft stellte für sie das Instrument der Analyse und Protokollierung dar.
Der Streit um das Ding-an-sich rief eine große Kontroverse hervor und spaltete die Kantschüler in zwei große Lager mit inkommensurablen Standpunkten. Die Idealisten formten eine der wichtigsten und bekanntesten Strömung in der deutschen Geschichte, den deutschen Idealismus. Ihn haben philosophische Größen wie Johann Gottlob Fichte, Friedrich Schelling und nicht zuletzt Arthur Schopenhauer und Georg Hegel geprägt und ausgeformt.2

Zur besseren Vorstellung der einzelnen Ausrichtungen und Denker dient folgende Grafik:


Abbildung skizziert die einzelnen Ausrichtungen des deutschen Idealismus3

In der Nachfolge Kants ist insbesondere Johann Gottlob Fichte zu nennen. Fichte war von Kant inspiriert. Anfangs sehr begeistert, hielt er dessen Lehre bald für zu theoretisch. Fichte betonte ein pragmatisches Moment, das jede Philosophie haben sollte. So ging er von einer Ur-Tathandlung aus, die für ihn ein unauflöslicher Begriff der Philosophie war. Der hitzige Redner Fichte betonte in seinen Werken stets die Praxis und die Handlung, ein Tätigwerden – seine Reden an die deutsche Nation machten Epoche. Des Weiteren trat er für eine zwingende Untersuchung der Logik ein. Selbige müsse hinterfragt werden, da die Logik eine Notwendigkeit für wissenschaftliche Forschung, besonders relevant für den Fortschritt und somit für die Wahrheit selbst sei. Er forderte eine metaphysische Mitbegründung der Logik, und stellte drei Voraussetzungen auf. Diese waren: 1. Der Satz der Identität (Ich = Ich), 2. Die Antithese (Nicht-Ich = nicht Ich), 3. Limitation (Nicht-Bewußtes =Natur). Auf diese Art und Weise orientierte sich Fichte an der Dialektik bzw. dialektischen Methode, die im weiteren philosophiegeschichtlichen Verlauf von Hegel auf die Form von These, Anti-These und Synthese gebracht wurde. Fichte gehörte dem idealistischen Lager der Kantschüler an und verortete Kants Ding-an-sich im Bewusstsein.4
Einer der bekanntesten Aussprüche Fichtes aus Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1794: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist“ spielt auf das praktische Moment seiner Philosophie an.5 Dieser Ausspruch betont, dass der jeweilige Mensch eine gewichtige Rolle dafür spielt, für welche Philosophie man sich entscheidet, etwa darüber, ob man dem realistischen oder idealistischen Lager der Kantschüler angehört. Das Wichtigste war für Fichte jedoch, dass überhaupt ein Standpunkt ergriffen wurde, weil dies einen bzw. den Willensentschluss demonstrierte. Die Entscheidung für den Realismus, der die Ansicht vertrat, dass die Dinge aufeinander einwirken oder für den Idealismus, der die Ansicht hatte, dass alle Vorstellung Produkte des Geistes waren, war ein solcher Willensentschluss. Fichte im Speziellen und der Idealismus im Allgemeinen inspirierten Friedrich Schelling besonders stark.

Leben
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling6 wurde am 27. Januar 1775 als Sohn eines Pfarrers zu Leonberg in Württemberg geboren. Das Pfarrhaus bildete schon seit je her ein günstiges Klima in Bezug auf die Bildung, denn die Pfarrer waren ihres Berufs und Standes wegen gebildet und nicht selten die einzigen Gebildeten eines Dorfes. Insbesondere in Schwaben hatte sich gar ein „schwäbischer Pfarradel“ etabliert, dessen Kinder auf eine Lateinschule gingen. War diese absolviert, besuchte man ein höheres Seminar oder, falls vorhanden, ein Gymnasium. Wurde das sog. Landexamen bestanden, studierte man Theologie in Tübingen und wohnte auf herzogliche Kosten im Elite-bildenden Tübinger Stift. Einen solchen Bildungsweg sollte auch Friedrich Schelling erfahren. Er war ein exzellenter Schüler. Bereits im Alter von 10 Jahren legte er das Landexamen ab und wurde aus der Lateinschule entlassen. Nach zwei vergeblichen Anträgen zur Aufnahme in den Tübinger Stift, wurde dem 16jährigen Schelling auf Grund eines Sonderverfahrens der Eintritt gewährt. Im Stift hatte Schelling zwei außergewöhnliche Zimmergenossen, er wohnte und studierte Theologie zusammen mit Hegel und Hölderlin. Bereits 1792 erwarb Schelling den Magistergrad, indem er seine philosophische Dissertation über den Sündenfall einreichte. Im Weiteren interessierte sich Schelling für Kant, Spinoza und insbesondere für Fichte, dessen Schriften ihn sehr inspirierten. Nach seinem Studium tat er es seinen Freunden Hegel und Hölderlin gleich und arbeitete einige Jahre als Hauslehrer. In dieser Zeit veröffentlichte er 1797, nach intensiver Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, seine Ideen zu einer Philosophie der Natur. Dieses Werk war noch stark getragen von den Gedanken Fichtes und Schelling intendierte es als Fortsetzung des Fichte’schen Systems. Ein Jahr später veröffentlichte Schelling Von der Weltseele. Im selben Jahr wurde er als Professor nach Jena berufen und hielt neben Fichte dort Vorlesungen. In Jena kam Schelling auch mit dem Kreis um Friedrich Schlegel in Kontakt. Dieser Kreis wurde später als die „Jenaer Frühromantik“ bekannt und Schelling nahm in diesem Kreis bedeutenden Einfluss auf die Philosophie der Romantik. Zu diesem Zirkel junger Intellektueller zählten u.a. Persönlichkeiten wie die Brüder Schlegel, Dorothea Veit, Novalis, Johann Ludwig Tieck und Friedrich Hölderlin. Durch das neue Umfeld und die Inspiration, die er dort erfuhr, distanzierte er sich zunehmend von seinem Denkvorbild Fichte. 1799 in seinem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie wird erkennbar, was ein Jahr später in seinem Hauptwerk System des transzendentalen Idealismus deutlich ausgesprochen wird: die Wissenschaftslehre ist ein der Naturphilosophie lediglich nebengeordneter Teil. Somit vollzog sich ein deutlicher Bruch mit Fichte, der sich in den eigenen Denkimpulsen Schellings begründet sah. Es war ein Bruch, wie er sich auch zwischen Fichte und Kant ereignet hatte und später auch zwischen Schelling und Hegel ereignen sollte. 1803 wurde Schelling nach Würzburg gerufen und es folgte eine Phase, in der Schelling wenig schrieb und seinen Standpunkt weiterentwickelte. 1804 erschien seine Schrift Philosophie und Religion. Ab 1806 war Schelling Mitglied der Akademie der Wissenschaften und wurde sogar Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste in München. Im selben Jahr wurden nochmals Entfernung und Bruch mit Fichte deutlich, als Schelling eine hitzige Streitschrift gegen ihn veröffentlichte. Der früh berühmt gewordene Schelling wurde zunehmend von Hegels Schaffen aus der Öffentlichkeit verdrängt – 1806/07 erschien Hegels Phänomenologie des Geistes. Von 1820 bis 1827 lehrte Schelling in Erlangen. 1827 kehrte Schelling nach München zurück und beschränkte seine Tätigkeit auf das Halten von Vorlesungen an der neuen Universität München. Nach dem Tod Hegels 1831 erinnerte man sich an Schelling und 1841 erhielt er von Friedrich Wilhelm IV. einen Ruf nach Berlin, um dort dem Linkshegelianismus entgegenzuwirken. Doch waren seine Vorlesungen ein Misserfolg und so zog sich Schelling 1846 vollständig aus der Universitätstätigkeit zurück. Während Schelling mit der Ordnung seiner Schriften und der Ausarbeitung seines letzten Systems beschäftigt war, verstarb er am 20. August 1854 im Kurort Bad Ragaz in der Schweiz.7
Naturphilosophie
Mit seinen ersten, 1794 und 1795 verfassten Schriften Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt und Vom Ich als Prinzip der Philosophie ist Schelling noch ganz im Fichte’schen Denken verwurzelt. Das einzig wahre Prinzip der Philosophie ist ihm das absolute Ich, das aus sich selbst heraus die gesamte Welt der Objekte erzeugt. Ebenso vertreten die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus ein Jahr später noch die Ansicht, dass es nur zwei konsequente philosophische Standpunkte gebe, nämlich Spinoza zum einen und Kant-Fichte zum anderen. Zwischen diesen beiden müsse man wählen, um zu einem dezidierten Verständnis von Philosophie zu kommen. Aber bald genügte ihm die bloße „Subjekt“-Philosophie Fichtes nicht mehr, denn dieser hatte die Natur als philosophisches Objekt nahezu unbeachtet gelassen, indem er sie fast ausschließlich als Schranke oder als Mittel zum Zweck (der Abgrenzung) der menschlichen Persönlichkeit beleuchtete. Und da auch Kant nur die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gegeben habe, so wollte Schelling als Vereiniger beider auftreten, die klaffende Lücke zwischen Kants Materie und dem lebendigen Organismus durch eine „spekulative Physik“ schließen. Die Zeit schien dafür gekommen zu sein. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts hatten sich gravierende Fortschritte auf den verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft vollzogen. Die Leitfrage für Schelling war, auf welchen Nenner sich das Organische und Anorganische – also nach heutigem Verständnis die Biologie und die Physik – bringen ließen. Eine mathematisch-mechanische Naturerklärung schien ihm unbefriedigend, denn ihm schwebte eine „lebendige“ Naturauffassung vor. Der Kern von Schellings Naturphilosophie besteht darin, dass die gesamte Natur als ein großer Organismus vorgestellt wird und in einem zusammenhängenden System zu begreifen ist. Diese „Physik“ – getragen von einer konstitutiven Teleologie der Natur – verfährt spekulativ, d.h. Erklärungslücken des damaligen Wissenstandes der Naturwissenschaften werden durch Schellings eigene Spekulationen und Gedankenexperimente gefüllt.
Die Natur lasse sich nur verstehen, wenn wir sie als uns gleichartig, als Geist in der Natur auffassen. In dem großen, lebendigen Organismus der Natur wirken Kräfte, die im Wechselspiel stehen (Polarität). Seine Lehre verortet den Fortschritt von der unbewussten Natur hin zum Bewusstwerden (der Natur) oder dem Bewussten. Dabei orientiert er seine Architektonik an der Einteilung der Natur des Aristoteles, nach der die „tote Natur“ (Physik) die unterste Stufe der Natur bildet. Hierauf folgen die „Elemente“ (Chemie) und die „Lebewesen“ bzw. „beseelte Biologie“ also die Tiere und Pflanzen. Auf den beiden höchsten Stufen kommen dann die „Menschenkunde“ und schließlich das „Absolute“ oder „Göttliche“. In diesem Aufbau der Natur spielt nun die Polarität der Kräfte eine entscheidende Rolle, denn die Natur entwickelt sich mit bzw. durch ein Wechselspiel polarer Kräfte. Diese Polarität zieht sich durch alle Stufen von Schellings Einteilung der Natur. So stehen beispielsweise Anziehung und Abstoßung innerhalb der Physik im Wechselspiel, in der Chemie sind es Laugen und Säuren, die Biologie wird von den Polen Männlich- und Weiblichkeit dominiert, während auf der menschlichen Stufe der Natur Subjektivität und Objektivität einander gegenüberstehen. In seiner Naturphilosophie besitzt das Bewusste eine unbewusste Grundlage, nämlich die Natur selbst. Sie bewirkt das Unbewusste, d.i. die (sinnliche) Wahrnehmung. Nur auf Grundlage der Natur und der somit verbundenen Wahrnehmung kann ein Gedanke überhaupt gefasst oder gedacht werden und dies geschieht in einem Schritt vom Unbewussten hin zum Bewusstwerden. Aufbauend auf diesem Vorgang können Willensakte und Kulturinstitutionen greifen und letztendlich das Intellektuelle oder die Anschauung entwickelt werden. In dieser Verkettung etabliert Schelling das Herzstück seiner Philosophie, nämlich die Phantasie. Schelling spricht klar aus, dass die Künstler das Vorbild der Philosophen sein sollen, denn Philosophie ist – wie das Gemälde – ein Kunstwerk. So muss in seinen Augen die Wissenschaft dahin kommen, wo die Kunst schon immer war. Die Phantasie (Kunst) wird von Schelling als höchste Form des Geistes stilisiert und somit widerspricht Schelling der Lehre Kants, in der der Mensch keine Dinge selbst erschaffen kann.
Dies konnte nur Gott und auf diese Art und Weise hat er die Welt erschaffen. Schellings Mensch kann selbiges Gott mit Kraft seines Geistes, der Phantasie, gleich tun. (Vgl. Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 36, 43, 48, 51 f,
insbesondere 52 f, 54 ff, ferner Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 90,
außerdem Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie, S. 274 - 276.)

Die Philosophie Schellings fand insbesondere unter den Ärzten großen Anklang, da die Lebendigkeit im Vordergrund seiner Philosophie stand.8 Schellings Spätphilosophie, in der er eine positive, religiöse Philosophie entwickelte, wurde insbesondere von seinem Schüler Krause weiterverfolgt. Zu den Anhängern Schellings zählten unter anderem Henrik Steffens (1773 bis 1845), Karl Gustav Carus (1789 bis 1869), Adam Müller (1779-1829), sowie Joseph von Görres (1776 bis 1848).9
Philosophisch-praktische Schlussbemerkung
Schellings Werk ist heute sicherlich eines der am wenigsten präsenten Werke in der Philosophie und teilt so auch das Schicksal der meisten Vertreter der romantischen Schule und des deutschen Idealismus. Als Ausnahmen können nur Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel genannt sein und diese werden oftmals nur als Beiträge zur theoretischen oder praktischen Philosophie wahrgenommen und kaum unter ihrem Systemcharakter – geschweige ihrer Ausrichtung auf das Leben oder den Menschen. Anknüpfungspunkte für die romantische Schule gab es am ehesten in der Lebensphilosophie oder dem Existenzialismus, der sich auf die Rolle des Menschen und das menschliche Leben als solches konzentrierte. Hier sind wohl Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre, Camus und Jaspers zu erwähnen, die dieser Denkrichtung neue Impulse gaben und sie nachhaltig prägten. Die Frage ist, ob und was es gilt von der Romantik für uns zu bewahren.
Gegen Ende seines Buches macht Safranski uns auf eine Spannung zwischen dem Romantischen und dem Politischen aufmerksam:
„Die Spannung zwischen dem Romantischen und dem Politischen gehört zu der noch umgreifenderen Spannung zwischen dem Vorstellbaren und Lebbaren. Der Versuch, diese Spannung in eine widerspruchsfreie Einheit überführen zu wollen, kann zur Verarmung oder zur Verwüstung des Lebens führen. Das Leben verarmt, wenn man sich nichts mehr vorzustellen wagt über das hinaus, was man auch leben zu können glaubt. Und das Leben wird verwüstet, wenn man um jeden Preis, auch den der Zerstörung und Selbstzerstörung, etwas leben will, bloß weil man es sich vorgestellt hat. Das eine Mal verarmt das Leben, weil das Vorstellbare aufgegeben wird um des lieben Friedens willen; das andere Mal zerbricht es unter der Gewalt, mit der das Vorstellbare ohne Abstriche verwirklicht werden soll. Beides Mal hält man den Widerspruch zwischen dem Vorstellbaren und Lebbaren nicht aus und will ein Leben aus einem Guß. Ein solches Leben aber ist wohl doch nur ein romantischer Traum.“10
Zutreffend ist, dass Tagträumerei, die blind ist für bestehende reale Verhältnisse ist in der Politik nichts verloren hat. Eine solche Position ist anfällig für einen falsch motivierten Optimismus und kranke Ideologie, die auf eine Fehldeutung der Gegebenheit eines Landes, der Lebenssituation der Menschen und der Wirtschaft beruht. Romantik gehört sehr wohl in die Politik, wenn wir darunter eine visionäre Position verstehen, die nicht blind ist für gegebene Verhältnisse und so einen gesunden Optimismus zu Tage fördert, der sich nicht von schlechten Gegebenheiten demotivieren lässt, sondern Tatendrang in einem scheinbar kleinen oder stark beschränkten Handlungsrahmen verspürt. Ich denke solche Visionen sind der Weltfrieden, freier Handel oder eine Anhebung des weltweiten Lebensstandards, die Vermeidung oder Prävention des Einsatzes militärischer Mittel und die Bannung von Korruption aus der Politik. Und es ist eben eine solche Motivierung, die auch ein Spannungsverhältnis von Vorstellbarem und Lebbarem impliziert und dieses Spannungsverhältnis ist unauflösbar, denn das Leben selbst ist ein Spannungsverhältnis, das sich stets zwischen zwei Polen bewegt und in einer stets zu erneuernden Synthese entwickelt. Den Vollzug des Lebens gilt es durch das Finden einer Synthese, die sich als Handeln und Tätigwerden äußert, zu meistern oder zu bewältigen. Ein Leben, das sich nur an einem Pol abspielt übersteigert sich in ein Extrem und kann keine gesunde Haltung zum Leben und keine dem Leben zuträgliche Handlung hervorbringen. So könnten sich bestehende schlechte wirtschaftliche Verhältnisse auf das Leben insofern negativ auswirken, als dass man sich als nur noch reaktionär und passiv begreift; die Gegebenheiten werden als unveränderlich hingenommen und man beschäftigt sich ausschließlich mit Reaktionsstrategien und richtet demnach sein Leben aus. Andererseits kann man sich dazu versteigen alles für veränderlich zu halten und übersteigert sich einen Tatendrang der nicht nur schlechte, sondern auch gute Zustände oder Gegebenheit abschafft, zerstört oder verbannt. Dennoch ist es eine Illusion zu glauben, das Spannungsverhältnis von Romantischem oder Einbildungskraft und Realität könne vollkommen aufgelöst werden, es wäre „ein Leben aus einem Guß“ möglich. Leben ist die Kraft die sich zwischen zwei Extremen abspielt und tagtäglich fordert es uns dazu auf eine Entscheidung aus eigener Kraft zu fällen und unser eigenes Leben so zu gestalten. Begreifen wir uns als Personen, die sozial mündig und verantwortungsvoll mit ihrem Leben umgehen können und wollen, so sind wir zu aller erst uns selbst und danach auch unserem Gegenüber die Antwort auf die Frage: „Was will ich mit meinem Leben anfangen oder was erwarte ich von meinem Leben?“ schuldig. Die Binsenweisheit, dass das Leben kurz ist kennt jeder, doch verstehen tut er diese triviale Einsicht meist erst wenn es „zu spät“ ist, nämlich dann wenn man einen notwendigen Abstand in der Reflexion zu seinem Leben gewinnt, der leider meist erst durch fortgeschrittenes Alter, Krankheit oder andere Extremsituationen einsetzt. In einem als Konsum-, Spaß, Informations- und Wissensgesellschaft verschrieenen Sozial - Gefüge werden solche Reflexionen gern lächerlich gemacht oder als unnötig erachtet, da sie schnell als Spaßkiller, Gute-Laune-Verderber gebranntmarkt werden. Aber so gern man sich dieser Reflexionspflicht – denn eine solche haben insbesondere die Menschen der Wohlstandsgesellschaften des Westens gegenüber den Armen der dritten Welt – entzieht und sie vollkommen verdrängen möchte, so kommt sie doch bei vielen in fortgeschrittenen Alter als die sog. Midlifecrisis zum Ausdruck und es ist eine romantische Verklärung zu glauben man könnte und sollte sich der Reflexionspflicht entziehen.
Das Romantische ist aber auch eine Lebensnotwendigkeit in dem Sinne, in dem Safranski sie als „Mehrwert, der Überschuß an schöner Weltfremdheit, der Überfluß an Bedeutsamkeit“ charakterisiert und sie als die Neugier „auf das ganz andere“ begreift. Sei das Andere nun die Natur oder der Andere, das Fichte’sche Nicht-Ich11, es zwingt uns zu einer Auseinandersetzung und ist als die Herausforderung an das Leben oder des Lebens zu begreifen. Niemand kann ein Leben führen und sein Leben so gestalten, dass es nur am Realen orientiert wäre – gerade in einer Zeit in der die eigenen Lebensumstände als deprimierend empfunden werden und eine Unausgeglichenheit oder Unzufriedenheit nach sich ziehen. Verstehen wir „Weltfremdheit“ nicht als bloße Naivität, also als (negativ gemeinte) „Gutgläubigkeit und Lebensferne“, sondern als eine ursprüngliche, ureigene Lebensbejahung und Offenheit für das Neue, so ist sie unabdingbar. Eine solche Romantik treffen wir alle in unseren sozialen Kontakten und unserer Lebensgestaltung an. Gern werden Romantik und Verklärung mit der Liebe assoziiert – und dies ist ihr auch eigen – aber das Romantische gehört auch in die Lebensplanung, wenn wir hierunter den Entwurf des eignen Selbst als eine progressive Ausformung einer individuellen Vision verstehen. Würden wir einige Menschen nicht als „gute Freunde“ und andere als Ziele der eigenen Liebe wahrnehmen und „verklären“, sie also im gewissen Maße romantisieren, wäre das Leben nahezu unerträglich. Auch das eigene Leben muss romantisiert sein, wenn wir darunter verstehen uns als unseren eignen Lebensgestalter und Schöpfer zu fassen, als aktives Wesen. Und es ist eben der Kreislauf aus Reflexion / Entwurf des eigenen Selbst und aktivem Tätig sein und Tätig werden, der das erst ausmacht was wir als „Leben“ bezeichnen wollen – und eben das ist das Romantische was es zu bewahren gilt.

Anmerkungen
1 Schelling entwickelte ein umfassendes philosophisches System, wir beschränken uns hier auf eine rudimentäre Darstellung seiner Naturphilosophie.
2 Siehe hierzu: Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 25 ff.
3 Rekonstruktion einer Tafelskizze aus der Vorlesung Philosophie der Gegenwart im Sommersemester 2004 von Lutz Geldsetzer.
4 Vgl. Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 69 ff.
5 Siehe Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie, S. 266 f.
6 1812 geadelt.
7 Vgl. Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 85 ff, sowie
Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie, S. 271 ff.
8 Darüber hinaus ist wahrscheinlich auch die heutige Bezeichnung des Ärzteberufs als Kunst aus Schellings Philosophie entlehnt. Siehe Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 98.
9 Siehe hierzu Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie, S. 87 ff, ferner
Kirchhoff, Jochen: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, S. 80 ff.
10 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine Deutsche Affäre, S. 393.
11 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine Deutsche Affäre; München 2007, S. 73 f.


Literatur
Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken, Stuttgart 1992, S. 271 - 276.
Kirchhoff, Jochen: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 2000, S. 76 - 110.
Safranski, Rüdiger: Romatik. Eine Deutsche Affäre; München 2007.
Vorländer, Karl / Geldsetzer, Lutz (Hrsg.): Geschichte der Philosophie, Bd.3,1, Leipzig 1975, S. 81 - 103.
http://www.jena.de/sixcms/detail.php?id=10896 (24.7.08)
http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Joseph_Schelling (24.7.08)

doch Verweis auf: philopraxis-feigenblätter.blogspot.com

Dienstag, August 12, 2008

Romantik, am Rheine

Sommersturm , ergiebiger Regen. SinnPraxis übt im Salon MH eine "Lesung in verteiltenRollen" , erste Praktikumsarbeit von ANNA .
28.7. , 4. und11. 8.2008
Geplante Fortsetzung TIAN ?
am 18. August 19 h

Sonntag, August 10, 2008

durch die blaue Blume

im stachligen zwiegespräch KLEIST - GÜNDERODE 1804 in Winkel am Rheine; ein Rückgriff von Christa Wolf -zur Selbstverständigung. edition BRIGITTE 21. Gut zu lesen in verteilten Rollen.
Danke, Martin Bölle / HD !

Sommergruß SinnPraxis

Freitag, Juli 04, 2008

Frische Fahrt

R O M A N T I K -Seminar . . .

7.o7. Frische Fahrt. EICHENDORF & HOFFMANN / Bettina

Samstag 12.o7: Symposion + Paul zu Nachwirkungen der Romantik,'
ab 14 h im Garten Seeweg 25 A L L E N s b a c h


Auffallende Frauen in der R. / Marianne

Romantische Politik / Gespräch
Safranski Teil 2: Das Romantische


s-a-: Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre (2007)

Montag, Juni 02, 2008

Ludwig Tiecks literarisches Schaffen im Lichte Schellings und Kants

Tobias Hummelsberger


I.Schellings Naturphilosophie

In seinem Werk „Romantik. Eine deutsche Affäre“1 weist Rüdiger Safranski auf den Einfluss des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling auf die poetische Naturkonzeption des Dichters Ludwig Tieck hin2. Schelling gehörte neben Fichte und Schiller zu den Gründungsvätern des Jenaer Kreises, dem sich alsbald junge aufstrebende Denker anschlossen und der als Wiege der romantischen Bewegung in die Geschichte eingehen sollte; vor allem Vertreter der „schönen Künste“ wurden von Jenas geistigem Zentrum angezogen, so auch der Berliner Ludwig Tieck. Aufgrund des geistigen und physischen Zusammenlebens ist es nicht verwunderlich, wenn die Werke der Jenaer Protagonisten die Früchte gegenseitiger Einflussnahme tragen.
Um Tiecks Übersetzung der philosophischen Anschauungen Schellings in seine romantische Ästhetik aufzuzeigen, werden im Folgenden Grundzüge der Schellingschen Naturphilosophie referiert.

Seit 1797 entwickelt Schelling in seiner Metaphysik die von Leibniz aufgestellte These von der „prästabilierten Harmonie“ weiter: Seine „immanent prästabilierte Harmonie“ besteht nicht zwischen Innen- und Außenwelt, sondern zwischen individueller Monade und monadischen Universum3. Die Einheit von Existenz und Bewusstsein, die der Mensch sich selbst wissend ist, steht in prästabilierter Harmonie zur Einheit von Wirklichkeit und Vernunft, die er als Weltzusammenhang erfasst – Bewusstsein und Welt spiegeln sich also ineinander. Vielleicht ist das, was Tieck zur Aussage bewegte, er behandele in seinen frühromantischen Werken ein „Grauen, welches uns unmittelbar mit dem Universum auf dunkle Weise verknüpfen soll.“4
Seine Naturphilosophie veröffentlicht Schelling erstmals in seinem Werk „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ (1799). Es gilt, die Natur als Wirklichkeit selbst, als unbedingte Realität zu begreifen, die erfahrene Wirklichkeit selbst bedenkend zu rekonstruieren:
„Da sie [die Natur, Anm. d. Vfs.] sich selbst die Sphäre giebt, so kann keine fremde Macht in sie eingreifen; alle ihre Gesetze sind immanent, oder: die Natur ist ihre eigene Gesetzgeberin, (Autonomie der Natur).
Was in der Natur geschieht, muß sich auch aus den thätigen und bewegenden Principien erklären lassen, die in ihr selbst liegen, oder: die Natur ist sich selbst genug, (Autarkie der Natur).
Zusammenfassen lässt sich beides in den Satz: die Natur hat unbedingte Realität; welcher Satz eben das Princip einer Naturphilosophie ist.“5
Damit geht er der von Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ aufgeworfenen Frage nach, wie die als Ganzheit erfahrene Natur auch als aus sich vermittelte Ganzheit begriffen werden kann.
Auch Tieck begreift die Natur, seine poetische Naturkonzeption, als ganzheitlich. In seiner Dichtung erscheint die Naturlandschaft als Komplex zusammenhängender Naturdinge, der sich räumlich wie zeitlich entfaltet und sich ästhetisch als Bild darbietet. In seinen beiden Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ und „Der Runenberg“ werden die Autonomie und die Autarkie der Natur grundlegend durch die topologische Konzeption des Handlungsgeschehens inszeniert: Der phantastisch-märchenhafte Natur-Raum ist deutlich abgegrenzt vom rationalen Stadt-Raum; dies ermöglicht die Bildung von Gegensätzen wie heidnisch/christlich und Abenteuer/Alltag. In den beiden Märchen ist die Natur eine in sich geschlossene Märchenwelt, in der das Phantastische stattfindet, die Protagonisten erweisen sich dabei als Grenzgänger. Im Runenberg sieht sich Christian der Übermacht der Natur ausgeliefert, die sich in der Bergkönigin manifestiert. Die Erscheinung der Naturlandschaft als Komplex, als in sich geschlossen, hat Tieck mit seinen beiden Kunstmärchen in die deutsche Literatur eingeführt – damit hat er die Romantik nachhaltig geprägt, seine Naturkonzeption wird von den Romantikern, besonders von E.T.A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff, aufgenommen und entwickelt sich schließlich zu einem unverkennbaren Stilmittel der deutschen (Früh-)Romantik. Insofern lässt sich sagen, dass durch Tieck die Schellingsche These der in sich geschlossenen Natur zu einem wegweisenden poetischen „Romantikum“ ausgearbeitet wird.

Zurück zum „Ersten Entwurf“: Eine sich in all ihren Ausformungen hervorbringende und sich durch all ihre Ausformungen immer wieder erhaltende und durch sie hindurch immer erneuernde Natur lässt sich nur anhand von drei zusammenwirkenden Momenten denken:
1.Die Natur ist unendliche Produktivität – der Mensch erfährt die Natur immer als sich produktiv erneuernde Kraft.
2.Die Natur ist unendliche Hemmung – der Mensch erfährt die Natur in bestimmten Ausformungen, und so muss der unendlichen Produktivität eine ebenso unendliche Hemmung entgegengesetzt werden, die auf Bestimmtheit hin drängt und durch die erst Qualitäten denkbar werden:
„Man denke sich Eine von Einem Mittelpunct nach allen Richtungen ausströmende, ursprünglich in sich selbst unendliche Kraft, so wird diese in keinem Punct des Raums einen Moment verweilen, den Raum also leer lassen, wenn nicht eine entgegenwirkende (retardierende) Thätigkeit ihrer Expansion eine endliche Geschwindigkeit giebt.“6
3.Die Natur ist permanente Reproduktion – in jeder einzelnen Ausformung der Natur vernichten und erneuern sich die Produktivität und die Hemmung ununterbrochen, Position und Negation würden sich ohne das vermittelnde Moment der Reproduktion auslöschen:
„Kein Produkt in der Natur ist also fixirt, sondern, in jedem Augenblick durch die Kraft der ganzen Natur reproducirt. (Wir sehen eigentlich nicht das Bestehen, sondern das ständige Reproducirtwerdern der Naturprodukte).“7
Mit diesen drei Momenten ist die wirkliche und werdende Natur beschrieben, ein produktiver Prozess, der durch all seine Ausformungen hindurch sich permanent erneuert:
„Beispiel: Ein Strom fließt in gerader Linie vorwärts, solange er keinem Widerstand begegnet. Wo Widerstand – Wirbel. Ein solcher Wirbel ist jedes ursprüngliche Naturprodukt, jede Organisation z.B. Der Wirbel ist nicht etwas Feststehendes, sondern beständig Wandelbares – aber in jedem Augenblick neu Reproducirtes. 8
Nach dieser Betrachtung der Natur als Ganzheit muss nun der Naturprozess selbst in seinen konkreten Ausformungen begreifend rekonstruiert werden. Schellings Grundidee dabei ist, dass sich jene drei Momente auch als tatsächliche Momente der Natur erweisen lassen müssen. Als solche sind sie nun nicht mehr Prinzipien der Denkens, sondern Wirkmächte der Natur selbst, die Schelling „Potenzen“ nennt. Diese Potenzen sind die Materie, das Licht und der Organismus. Jede Potenz kann als eine bestimmte Ausformung der Natur selbst wiederum nur aus jener gerade umschriebenen dreifachen Bestimmtheit als sich produzierende Gestalt begriffen werden, und jede beherrscht einen bestimmten Bereich: die Materie die Sphäre des Himmelsgeschehens, das Licht die dynamisch-qualitativen Dimensionen der magnetisch-elektrischen-chemischen Prozesse und der Organismus den Bereich der Lebensprozesse. Problematisch ist die Frage nach dem Anfang der Materie. Sie kann nicht vorausgesetzt werden, da ja das Werden der Natur aus sich selbst begriffen werden soll:
„Die ganze Natur [...] soll einem immer werdenden Producte gleich seyn.[...] Alles, was in der Natur ist, muß angesehen werden, als ein Gewordnes. Keine Materie der Natur ist primitiv, denn es existiert eine unendliche Mannichfaltigkeit ursprünglicher Actionen [...]. - Diese Actionen zusammen sollen nur Ein absolutes Produkt darstellen. Die Natur also muß sie combiniren. Es muß daher ein allgemeiner Zwang zur Combination durch die ganze Natur statt findend [...].“9
Materie tritt dem Menschen immer als in sich bewegt entgegen, beispielsweise als rotierender Himmelskörper. Dieser ist das Ergebnis zweier in ihm gegenwirkender Kräfte (Position und Negation), die nicht von gleicher Art sind, die sich in ihm beständig vernichten und erneuern. Diese zwei Kräfte sind nie direkt, sondern immer nur indirekt an ihrem sich konkretisierenden Ergebnis erfahrbar. Zwar ist das Universum unendlich, doch wird das Materielle durch das Hervortreten der zweiten Potenz des Lichtes bzw. jener Aktionen, die am Licht in Erscheinung treten können, begrenzt. Die Begrenzung ist somit keine äußere, sondern eine innere, die Schelling vor allem an den Phänomenen der dynamischen Prozesse des Magnetismus, der Elektrizität und der chemischen Prozesse diskutiert. Der Organismus als dritte Potenz ist die in sich selbst reproduzierende Produktivität, er unterwirft die anderen Potenzen in seinem Bereich seinem Drang zur Reproduktion. Die Materie und die dynamischen Prozesse werden so zur Erhaltung eines sich ständig erneuernden Lebensprozeses durch einzelne individuelle Ausformungen hindurch eingesetzt und an dieser Aufgabe ausgerichtet. Auch hierzu findet sich bei Tieck eine Parallele: Es ist der umherirrende Künstler Franz Sternbald, der die unendliche Produktivität der in sich geschlossenen Natur erkennt:
„Ich höre, ich vernehme, wie der ewige Weltgeist mit meisterndem Finger die furchtbare Harfe mit allen ihren Klängen greift, wie die mannigfaltigsten Gebilde sich seinem Spiel erzeugen, und über die ganze Natur mit geistigen Flügeln ausbreiten.“10

Der Organismus seinerseits drängt auf eine Ausformung hin, die keine (eigentliche) Ausformung der Natur mehr ist und doch mit ihren ermöglichenden Bedingungen ganz und gar in der Potenz des Organismus verwurzelt ist: das menschliche Bewusstsein. Das Bewusstsein ist etwas, das die Natur aus sich selbst hervorgebracht hat und in dem die Natur auch weiterhin wirksam ist, und zwar in der spezifischen Ausformung des bewussten Verhältnisses zur Wirklichkeit. Es ist eine der Hauptaufgaben der Naturphilosophie, die Natur als Gesamtwirklichkeit so zu bestimmen, dass das organische Leben und das menschliche Bewusstsein als ihre eigenen Potenzen begriffen werden können. Sie muss alle Ausformungen des Wirklichen als aus der Natur selber hervorgebracht rekonstruieren, bis hin zum Bewusstsein, das ebenfalls als eine Ausformung der Natur zu erfassen ist, in der sich die Natur selber anzuschauen und zu begreifen beginnt.
Auf diesen Punkt spielt Safranski wohl an, wenn er anmerkt, Tieck habe bei Schellings Naturphilosophie eine Bestätigung dafür gefunden, „daß sich im Spiegel der Abgründe der äußeren die eigene innere Natur enthüllt [;] doch während für Schelling im menschlichen Geist die Natur zum hellen Bewußtsein ihrer selbst durchdringt, faszinier[e] Tieck das Dunkle, auch Grauenvolle“11. Gerade in seinen Kunstmärchen entsteht eine metaphysische Korrespondenz zwischen Mensch und Natur, die Landschaft wird zum Gemüt und das Gemüt zur Landschaft, die Natur wirkt bewegt und beseelt. Jenes Dunkle findet sich verstärkt in der Gebirgslandschaft. Im „Runenberg“ eilt der Protagonist Christian in völliger Ekstase hinauf auf den Berg; eine zunehmende Anthropomorphisierung der Umgebung, die letztlich ihren Ausgang im Bereich des Anorganischen findet, sowie eine Annäherung an die innere Welt sind zu verzeichnen:
„Der junge Jäger war nicht verwundert, er verdoppelte nur seine Schritte nach dem Runenberge zu, alles winkte ihm dorthin, die Sterne schienen dorthin zu leuchten, der Mond wies mit einer hellen Straße nach den Trümmern [...] und aus der Tiefe redeten ihm Gewässer und rauschende Wälder zu und sprachen ihm Mut ein. Seine Schritte waren wie beflügelt [...].“ /
„[...] [D]ie Felsen wurden steiler, das Grün verlor sich, die kahlen Wände riefen ihn mit zürnenden Stimmen an [...].“/
„[...] [S]o sehr spornten ihn irre Vorstellungen und unverständliche Wünsche.“12
Die Naturdarstellung als beseelter Komplex in der deutschen Literatur ist ebenso das Verdienst Tiecks.


II.Kants Ästhetik

Auch Kants Philosophie hält Einzug in das Werk Tiecks. In seiner „Kritik der Urteilskraft“13 unterscheidet Kant das Erhabene vom Schönen der Natur14: Beide sind Gegenstand der reflexiven Urteilskraft, das Erhabene versetzt jedoch den Menschen in einen Zustand der Erregbarkeit, während das Schöne hingegen eine „ruhige Kontemplation“15 hervorruft. Ferner unterscheiden sie sich durch die Merkmale der Begrenzung und der Unbegreztheit: Das Naturschöne „betrifft die Form des Gegenstands, die in der Begrenzung besteht“16, denn der Schönheitsbegriff bezieht sich auf die Form, die Grenze und Umriss ist, das Erhabene findet sich dagegen auch im Formlosen, es liegt in der Unbegrenztheit. Das Schöne ist mit einem qualitativen, das Erhabene mit einem quantitativen Wohlgefallen verbunden.
Das Erhabene der Natur erlebt der Mensch an Naturereignissen und Naturgegenständen, die furchterregend sind oder das Gefühl des Ungeheuren oder der unendlichen Weite geben: Steile Felswände, Unwetter, Naturkatastrophen, das weite Meer, Wasserfälle, der Sternenhimmel, das Dunkel und die Stille der Nacht usw. vermitteln das Gefühl der Ohnmacht und Kleinheit, erregen Furcht oder schrecken den Menschen ab. Anders als beim Erleben des Naturschönen wird der Mensch von Anblick dieser Erscheinung in einer Art negativer Lust gleichzeitig angezogen und abgestoßen.
Kants Natur-Ästhetik setzt Tieck literarisch um: Das Erhabene der Natur erfährt der Tiecksche Protagonist des »naturalistischen« Kunstmärchens („Eckbert“/„Runenberg“) in der in sich geschlossenen Natur, vornehmlich in der Gebirgslandschaft: Schroffe Felsen, steile Klippen und bedrohliche Hänge vermitteln in ihrer Ambiguität beides, Erhabenheit und Schauer. Diese Ambiguität greift über auf die nachfolgende romantische Literatur, auch in der Malerei tritt sie als Motiv auf: Die Werke Caspar David Friedrichs sind hier zu erwähnen, in Bezug auf Tieck vor allem „Gebirgslandschaft mit Regenbogen“, „Felspartie“, „Winterlandschaft“, „Kreuz und Kathedrale im Gebirge“, „Der Chasseur im Walde“, „Erinnerungen an das Riesengebirge“. Wie bei Friedrich steht bei Tieck im künstlerischen Fokus nicht das Kantische Schöne, sondern das Erhabene der Natur. Eine Auseinandersetzung Tiecks mit Kants Ästhetik findet sich zudem in dem Essay „Über das Erhabene“17.
Kant hebt bei seiner Behandlung des Erhabenen immer wieder die Begegnung mit dem Abgründigen hervor, um auf die Ebene des Übersinnlichen, auf die Freiheit hinzulenken: Der Mensch ist zum einen ein eingeschränktes Sinneswesen, das mit seinem Anschauungsvemögen und seiner Phantasie das übersinnliche Unendliche und Unbedingte nicht greifen kann. Zum anderen kann er als moralisches Wesen das Sinnliche übersteigen und im Denken das Unendliche berühren. Im „Eckbert“ und im „Runenberg“ finden sich die Protagonisten dem Übersinnlichen, das sich in der Natur offenbart, ausgeliefert, die letzte Erkenntnis bleibt ihnen schließlich verborgen. Auch in „Franz Sternbalds Wanderungen“ wird der Einfluss von Kants Ästhetik spürbar, wenn Sternbald einem Handwerker gegenüber die erhabene Nutzlosigkeit der Kunst verteidigen muss.

Anmerkungen
1Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.
2 Siehe Safranksi, S. 104.
3 Zu Schellings Naturphilosophie siehe Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (Schellingiana Bd. 8, herausgegeben von Walter E. Ehrhardt im Auftrag der Internationalen Schelling Gesellschaft), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 sowie ders.: Schellings Idee einer Naturphilosophie.
http://www.uni-kassel.de/~schmiedk/Schelling.htm
4 Zitat nach Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte, herausgegeben von Wilfried Barner und Gunter E. Grimm), München 1992, S. 263.
5 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe; Reihe 1, Werke 7. Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs und Paul Ziche, Stuttgart 2001, S. 81.
6 Schelling, S. 82.
7 Schelling, S. 276.
8 Schelling, S. 276.
9 Schelling, S. 93.
10 Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der »Schriften« von 1828–1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Herausgegeben von Marianne Thalmann, Bd. 1, München 1963, S.888. http://www.zeno.org/Literatur/M/Tieck,+Ludwig/Romane/Franz+Sternbalds+Wanderungen
11 Safranski, S. 104.
12 Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert/Der Runenberg (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7732), Stuttgart 1952/2002, S. 33f.
13 Siehe Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977. http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel/Kritik+der+Urteilskraft
14 Siehe Schneider, Gerhard: Naturschönheit und Kritik. Zur Aktualität von Kants Kritik der Urteilskraft für die Umwelterziehung (Epistemata – Würzburger Wissenschaftliche Schriften; Reihe Philosophie, Bd. 161 -1994), Diss. Würzburg 1994, S. 104-113.
15 Zitat Kants nach Schneider, S. 106.
16 Zitat Kants nach Schneider, S. 106.
17 Tieck, Ludwig: Über das Erhabene. In: Ders.: Schriften in in zwölf Bänden. Herausgegeben von Achim Hölter,
Bd. 1 Schriften 1789-1794, Frankfurt am Main 1991, S. 637-651.



Literaturverzeichnis

Primärliteratur:
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977.
http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel/Kritik+der+Urteilskraft

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe; Reihe 1, Werke; 7. Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs und Paul Ziche, Stuttgart 2001.

Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert/Der Runenberg (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7732), Stuttgart 1952/2002.

Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der »Schriften« von 1828–1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Herausgegeben von Marianne Thalmann, Bd. 1, München 1963. http://www.zeno.org/Literatur/M/Tieck,+Ludwig/Romane/Franz+Sternbalds+Wanderungen

Tieck, Ludwig: Über das Erhabene. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Herausgegeben von Achim Hölter, Bd. 1 Schriften 1789-1794, Frankfurt am Main 1991, S. 637-651.


Sekundärliteratur:

Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte, herausgegeben von Wilfried Barner und Gunter E. Grimm), München 1992.

Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.

Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (Schellingiana Bd. 8, herausgegeben von Walter E. Ehrhardt im Auftrag der Internationalen Schelling Gesellschaft), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.

Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: Schellings Idee einer Naturphilosophie.
http://www.uni-kassel.de/~schmiedk/Schelling.htm

Schneider, Gerhard: Naturschönheit und Kritik. Zur Aktualität von Kants Kritik der Urteilskraft für die Umwelterziehung (Epistemata – Würzburger Wissenschaftliche Schriften; Reihe Philosophie, Bd. 161 -1994), Diss. Würzburg 1994.

Schlegel

Der Begriff der Mythologie bei Friedrich Schlegel
Patrick Wesp

1 Einleitung

Bei der Lektüre von Friedrich Schlegels frühen Schriften, zum Beispiel der ‘Rede über die Mythologie’, findet sich, dass dort die Begriffe ‘Poesie’, ‘Mythologie’, ‘Philosophie’, ‘Symbol’ und ‘Allegorie’ nicht scharf gegeneinander abgegrenzt werden und teils sogar synonym verwandt werden. Auch sein Bruder August Wilhelm Schlegel bezeichnet etwa die Mythologie als die „Urpoesie“, als „Sprache der Vernunft“ und als „Sprache der Phantasie“. Teils liegt dies an unscharfer Begriffsverwendung. Zum größten Teil jedoch liegt es daran, dass die Begriffe, bei der Definition des Mythos ineinander übergehen sollen, ja dies sogar notwendig tun. Dazu kommt, dass wir es, insbesondere bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel mit ‘Möglichkeitsspielräumen’ zu tun haben. Das heißt, dass etwa Vernunft und Phantasie, im Prozess der Mythenbildung, in verschiedener Weise wirken können. Nicht zuletzt ist, insbesondere bei Friedrich Schlegel, die Konstruktion der neuen Mythologie mehr ein ‘Werden’. Wenngleich eine gewisse Ordnung für ihre Konstruktion vonnöten ist, so wird sie doch nie eine vollendete Systematik darstellen. Dabei drängt sich der Vergleich zur Turing-Maschine auf. Wenn ein System sich selbst zum Gegenstand hat, dann kann es nicht vollständig sein. Das Konzept des „Werdens“ beinhaltet jedoch mehr als das. Das zeigen Schlegels Anmerkungen über die Historizität der neuen Mythologie. Indem sie ein Produkt ihrer Zeit und ihrer Zeitgenossen ist, befruchtet sie sich selbst stets aufs Neue. Diese einleitenden Erörterungen sollen zum einen einen Rahmen bilden für den Umfang des Mythologiebegriffs. Zum Anderen sollen sie zeigen, dass es fast unmöglich ist, Friedrich Schlegels Theorie der neuen Mythologie, ohne den historischen und theoretischen Kontext zu verstehen. Auch Theorien anderer Philosophen und Poeten sind hier von Bedeutung. Es würde den Rahmen dieses Essays sprengen, beispielsweise die gesamte literaturtheoretische Rezeption, des Begriffs der Mythologie, im deutschen Sprachraum darzulegen. Ich denke jedoch, dass ich den Begriff der neuen Mythologie, wie er von Friedrich Schlegel im Athenäum verwandt wird, darstellen kann, ohne zu viele Autoren zu bemühen. Ich werde aber einige Anmerkungen, zum Beispiel von August Wilhelm Schlegel, einfließen lassen, um das Verständnis für manche fragmentarischen Äußerungen zu zu erleichtern. Es ist auch notwendig, einige andere Ideen von Theoretikern des ausgehenden 18ten und frühen 19ten Jahrhunderts darzustellen. Die Struktur meines Essays bleibt aber insoweit fragmentarisch, dass ich die einzelnen Kapitel auch anders hätte anordnen können. Die holistische Konzeption der „Rede über die Mythologie“ fordert eigentlich ein einziges, unaufgerämtes Kapitel. Der Übersicht halber kategorisiere ich aber in einzelne zentrale Ideen der Schrift.

2 Der Logos im Mythos

So phantastisch der Mythos auch ist, so wurzelt er doch in der Wirklichkeit. Zunächst bedarf das Mythologische der Narration, da die Elemente des Mythos einer anderen Welt angehören. Die Phantasie des Dichters erschafft den Hintergrund und die Protagonisten des Mythos. Jedoch herrscht auch hier nicht Beliebigkeit. Die Konstruktion des Mythos fußt in der Realität. So lenkt Helios seinen Wagen doch nur in den Bahnen, die die Sonne alltäglich beschreibt. Und so bunt auch der Olymp mit all seinen Göttern sein mag. Es gibt doch einen obersten Gott, der dem Oberhaupt im Staat entspricht. Der Mythos enthält also Elemente des Narrativen, Phantastischen, wie auch des Vernunftsmäßigen, Logischen. Die Mythendeutung der Aufklärung versuchte dem Mythos das narrative Element wegzuinterpretetieren. Übrig blieb die rationale Erklärung. Dabei wird der Olymp auf die Wiederspiegelung menschlicher und biologischer Eigenschaften reduziert. Die Phantasie spielt keine Rolle mehr. Dagegen steht die These Friedrich Creuzers, dass die Mythologie nicht erklärbar sei. Nur durch die Anschauung kann sie gefasst werden. „Gottfried Herrmann erkennt, dass die Creuzersche These auf die Identifikation von Poesie und Mythos hinausläuft und damit jeder rationalen Erklärung des Mythos den Boden entzieht.“1 Dies stellt die Basis dar, für Friedrich Schlegels These, dass Mythologie mit Poesie identisch ist. „Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich.“2 Auf diese Beziehung gehe ich später nochmals ein. Für dieses Kapitel ist wichtig anzumerken, dass bei Friedrich Schlegel die neue Mythologie (auch) die Funktion hat, die Natur in poetischer Weise darzustellen. „Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe?“ 3 Trotzdem soll die Mythologie aus der Tiefe des Verstandes entspringen. „Die neue Mythologie muss im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden.“ Friedrich Schlegels Konstruktion der neuen Mythologie fordert also, dass die neue Mythologie sowohl eine Schöpfung der Einbildungskraft ist, wie auch des Verstandes. “…dass die neue Mythologie das Resultat bewusster Anstrengungen ist, nicht nur eine Schöpfung der Einbildungskraft, sondern ebenfalls des Denkens und der tiefsten Reflexion.“. 4 Dies gilt für die Schaffung, sowie für die Rezeption der Poesie, die dann zu einem Teil des Mythos wird. Der Poet erfasst also, sowohl verstandesmäßig als auch durch Anschauung, seine Umgebung. Er entwickelt so eine Idee. Diese verpackt er durch die Mittel der Anschauung. Die narrativen Mittel dazu nennt Friedrich Schlegel sowohl „Allegorien“ wie auch „Symbole“. Auch Johann Gottfried Herder spricht von „symbolisch“, „mythisch“ und „mytho-poetisch“. Die vernunftsmäßigen Elemente werden dann in diese bildhafte Erzählung eingebettet. Der Rezipient kann die bildhafte Narration vergleichsweise einfach dekodieren. Es bedarf aber wiederum einiger vernunftsmäßiger Anstrengung, die eingebetteten Elemente zu entschlüsseln. Herder spricht hier von der poetischen Bestandheit“ mythologischer Figuren einerseits und der poetischen Nebenidee“ andererseits. Auf den Begriff der „Ideen“ komme ich in Kapitel 5 nochmals zu sprechen.

3 Die Neue Mythologie als „Ewig Werdendes“

Auf welchem Wege soll nun aber die neue Mythologie kommen? Wird sie das Werk eines Meisters sein, wie es Spinoza etwa fuer Schlegel war? Und welche Gestalt soll sie annehmen. Soll es sich dabei um ein starres System von mythologischen Figuren handeln? Beides muss verneint werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die neue Mythologie nur durch das Zusammenspiel von Mensch und Umgebung entstehen kann. Sie ist zum einen eine symbolhafte Reflexion der Natur, der Gesellschaft und der Natur des Menschen. Daher kann sie nicht spontan entstehen, sondern nur als Reaktion auf die Zustände in der Welt. Da die Welt aber in ständigem Wandel begriffen ist, ist es auch die Mythologie. Zum Anderen ist die Mythologie, auch in anderer Hinsicht, kein starres System. Sie ist mehr als ein bloßer Spiegel der Gegenwart und der Vergangenheit. Sie beinhaltet die “poetische Nebenidee”. Der Rezipient kann sie auf heuristische Weise lesen. Das heißt, er kann Elemente des Mythos als Fragmente von Ideen über die Welt lesen. Er kann aber auch, durch seine Phantasie, Elemente seiner Ideen darin wiederfinden oder dadurch bilden. Wenn ich zum Beispiel die mythische Figur des Helios betrachte, mag dies meine eigene Phantasie anregen. Ich erkenne und poetisiere einen Weltzustand. Eine Eigenschaft des Helios ist zum Beispiel die, dass er eine einzelne Person ist, die für alle Menschen den Himmel erleuchtet. Wenn es ein anderer versucht, so ist dies zum Scheitern verurteilt. Das kann die Nebenidee in mir wachrufen, dass Herrschaftssysteme die Eigenschaft haben, einen alleinigen Anspruch auf Wahrheit zu propagieren. Um dies zu kritisieren, spinne ich einen Mythos, in dem der Feuerwagen jeden Tag anders besetzt ist. Dies kann ich beispielsweise anhand von Gegebenheiten in der Natur festmachen um symbolischen Charakter zu schaffen. Ich kann die unterschiedliche Zahl der Sonnenflecken als Besatzung des Wagens symbolisch darstellen. Auch Friedrich Schlegel will,“…dass der Leser die Arbeit des Autors gedanklich fortsetzt und dessen Anregungen selbstständig realisiert.5”. Ich würde den Gedanken von der „Nebenidee“ noch weiter führen. Denn durch die Lektüre des Mythos können auch Ideen im Rezipienten wachgerufen werden, die nicht vom Autor intendiert wurden. Die Mythologie wäre also mehr als die Summe ihrer Teile.

4 Genie und Kollektiv

Dies deutet auf einen weiteren Gedanken der Frühromantik hin. Die neue Mythologie soll durch die gemeinschaftliche kreative Tätigkeit verschiedener Individuen entstehen. Diesen Gedanken hat wohl keiner der zeitgenössischen Künstler so gut verwirklicht wie die Gebrueder Schlegel dies mit der Herausgabe des Athenäums taten. Gleichzeitig finden sich aber, vor allem in Friedrich Schlegels Schriften, Hinweise darauf, dass das Individuum nur eine Fragment des Unendlichen sei. Es scheint so, als würde hier der Geniegedanke frontal mit der pantheistischen Allheit des Seins kollidieren. Tatsächlich findet sich hier eine weitere Parallele von Friedrich Schlegels romantischer Vorstellungen mit der alten Mythologie. Sowohl mit deren Form, wie auch der Intention, mit dem die alten Dichter sie erfanden. Was die Form angeht, so sind die mythischen Gestalten Personifikationen von Aspekten der umgebenden Natur. Der Planeten, der Flüsse und Meere, oder abstrakter Phänomene und Verhaltensweisen, wie der Jagd oder der Eifersucht. Und doch wirken all diese Personifizierungen aus eigenen Motiven. Ja sie wenden sich sogar gegen ihre Umwelt (also die anderen Gottheiten). So verbannt Zeus die Titanen und entmannt seinen Vater, so wie der seinen Vater vor ihm. Athene, Diane und Aphrodite streiten darum wer die Schönste ist. Letzten Endes ist es aber ihr gemeinsames Wirken, das den Olymp bildet. So soll es sich auch mit dem Wirken der Dichter und Denker im Schaffen der neuen Mythologie verhalten. Auch in Bezug auf die Intentionen der romantischen Dichter, in der neuen Mythologie, soll es diese Symmetrie geben. Dichter sollen, jeder auf seine eigene Weise, zur Schaffung der neuen Mythologie beitragen.„Überhaupt muss man auf mehr als einem Wege zum Ziele dringen können. Jeder gehe ganz den Seinigen mit froher Zuversicht auf die individuellste Weise…der eigentliche Wert, ja die Tugend des Menschen sei seine Originalität.6“. Sie sollen aber gleichsam, durch die Phantasie ein Bild des Ganzen schaffen. Allerdings reicht es nicht hin nur Symbolik zu schaffen, die die Gegenwart karikiert. Im Schaffen des Dichters muss sich auch der Schein der göttlichen Perspektive wieder finden. Dies stellt Schlegel am Idealbild von Spinozas Poesie dar. „...ein klarer Duft schwebt unsichtbar sichtbar über dem Ganzen…dieser milde Widerschein der Gottheit im Menschen...“7. Das kreative Erzeugnis des Dichters steht dann aber nicht für sich alleine. Indem es die Schriften anderer Dichter anregt und sich mit diesen zu einem Gesamtwerk vereinigt, bildet sich die neue Mythologie. Das Ideal dieses gemeinschaftlichen Schaffensprozesses dürfte wohl das Gespräch sein, in dem verschiedene Denker sich gegenseitig mit ihren Ideen anstoßen. Dieses Ideal der Symphilosophie oder Sympoesie verwirklicht Schlegel in der "Rede über die Mythologie". Dort wird auch das Ausmaß deutlich, das der neue Schaffensprozess annehmen soll. Nicht nur Poeten, Philosophen oder Romantiker sollen, im Geiste des Idealismus, die neue Mythologie vorantreiben. Es sind Männer und Frauen, Geistes- und Naturwissenschaftler, die sich gegenseitig mit ihren Schriften befruchten sollen.

5 Die neue Mythologie als Sprache

Dies wirft die Frage nach der Kompatibilität der verschiedenen Schriften, Denkweisen und Disziplinen auf, die gemeinsam die neue Mythologie erschaffen sollen. In der "Rede über die Mythologie" spricht Schlegel, als einziges verbindendes Element, den "Geist des Idealismus" an. Ich will mich dieser Fragestellung zunächst mit einem Rekurs auf August Wilhelm Schlegels Schriften nähern. Er definiert die Sprache als einen "Abdruck des menschlichen Geistes, der darin die Entstehung und Verwandtschaft seiner Vorstellungen und der ganzen Mechanismus seiner Operationen niederlegt"8. Wenn die neue Mythologie die Form einer Sprache hat, wie kann dann ein einheitliches Alphabet und eine einheitliche Syntax entstehen, wenn doch all diese verschiedenen Denker und Disziplinen zusammen arbeiten? Gleich der Sprache, so fordert auch die Schaffung der neuen Mythologie einen "inneren Organismus des geistigen Daseins". Das heißt, dass poetisches Bewusstsein, mittels der Phantasie, in der Lage ist Bedeutungen in Worte zu legen. Dasselbe gilt für die Mythologie. Das Alphabet von Aphrodite bis Zeus wird mittels dichterischem Bewusstsein und Phantasie gebildet. Anschließend kann es genutzt werden, um erneut Bedeutungen zu transportieren. Die Mythologie ist also, so scheint es, eine Metasprache der Sprache. Und die Poesie bedient sich ihrer wiederum. "Die "freie selbstbewusste Poesie" die den Mythus als Stoff behandelt, indem sie ihn "dichterisch behandelt, poetisiert" steht deshalb noch um eine Stufe höher"9. Das heißt jedoch nicht, dass jede Poesie, die bedeutungstragende Elemente eines anderen Stoffes verwendet, eine neue Sprache darstellt. Ich will dies mit einem Beispiel illustrieren. In Mary Wollstonecraft Shelleys "Frankenstein" ist das Monster Sinnbild für die schöpferische und zerstörerische Kraft des Menschen. Im Film "Hancock" besitzt der Held eine alte vergilbte Eintrittskarte für eine Vorstellung von Frankenstein. Er selbst hat Superkräfte. Doch statt sie für die Erschaffung des Guten zu verwenden, zerstört er nur, sowohl seine Umgebung, wie sich selbst. Im Film durchläuft er einen Selbstfindungsprozess, infolge dessen er seine Kräfte einsetzt, um etwas zu erschaffen. Hier wird ein Element aus einem poetischen Werk dichterisch benutzt um den Bedeutungskontext eines anderen Werkes zu illustrieren. Dies geschieht über Genregrenzen hinweg. Trotzdem kann das Buch und der Film Teil derselben Mythologie sein. Dies illustriert auch, warum die Gebrüder Schlegel Mythologie und Poesie oft synonym verwenden. Indem der Mythos poetisiert wird, werden die Elemente der neu entstandenen Poesie selbst Teil des Mythos und können erneut verwendet werden, um Bedeutung zu transportieren. Dies geschieht auch über disziplinare Grenzen hinweg. So hat zum Beispiel die phantastische Literatur immer wieder Elemente aus Wissenschaft und Technik verwendet, um daraus Geschichten zu erschaffen, in denen Science Fiction dargestellt wird. Diese literarischen Vorlagen haben wiederum als Inspiration für die Wissenschaft gedient, um neue Technologien zu erschaffen. Als Beispiel kann man Jules Vernes "Reise zum Mond" anführen, in der ein Mensch mit der Kraft der Explosion zum Mond geschossen wird, was dann auch später realisiert wurde. Dies zeigt, wie die Poesie eine Universalsprache verwenden kann und damit nicht notwendig alle anderen Sprachen beherrschen muss. Es ist die Bildsprache des Allegorischen. "Soll die Poesie wieder zur Lehrerin der Menschheit werden, wird es ihre Aufgabe sein das System der Ideen in Bildern zu präsentieren"10 "Wird uns ein Gegenstand im Medium der Poesie gezeigt, so muss jeder Teil "durch dieses Medium gefärbt sein...dennoch bringt die poetische Darstellung dieser Begebenheit das "Wesentliche der Sache" klarer und deutlicher zur Anschauung, als es das "gewissenhafteste Protokoll" vermöchte"11. Damit können wieder Nebenideen transportiert werden. Natürlich sind dies nur einzelne Beispiele. Es bleibt die Frage, in wieweit dies ausreicht, um eine gemeinsame Sprache zu schaffen. Wie kann ein Dichter das vollständige Vokabular der Quantenphysik nutzen und mittels der Dichtung weiterentwickeln. Sind dieser Interdisziplinarität nicht Grenzen gesetzt? Hier muss man eine, noch weiter gehende Idee Friedrich Schlegels darstellen. Er hatte die Vision Elemente aus allen Wissenschaften zu universalisieren, sozusagen in dieselbe Sprache zu übersetzen. Diese Elemente sollen die Form von allgemein anwendbaren "Ideen" annehmen. Dabei wurde er vermutlich von der Ideenlehre von Immanuel Kant beeinflusst. Kant hatte statt dem Objekt, als zentralen Punkt aller Erkenntnis das Subjekt gesetzt. Die Vorstellung, dass Ideen unabhängig von Begriffen entstehen. Nicht umsonst spricht Schlegel von seiner Vorstellung einer Allgemeinpoesie als „Transzendentalpoesie“.
„Transzendental ist das Denken, wenn es sich gleichsam auf sich selbst bezieht und die Bedingungen erkundet, denen es unterliegt. In vergleichbarer Weise verfährt eine Poesie, die sich über sich selbst reflektierend erhebt und noch diese Reflexion zu einem Bestandteil ihrer selbst macht.12“. Die transzendentale Erkenntnis sucht das vor aller Erfahrung Gültige. Dies wurde von Fichte auf die Spitze getrieben, der das „Ich“ als absolut deklarierte und konsequenterweise nicht aus Lehrbüchern lehrte, sondern anhand eigener Ideen. Dies soll gewissermaßen ein offenes Ende dieses Kapitels bleiben. Ganz im Sinne der Symphilosophie. Es ist nicht Gegenstand dieser Arbeit Kants Ideenlehre oder Fichtes Definition des „Ich“ darzustellen. Aber es zeigt die Denkrichtung von Friedrich Schlegel an. Der selbst auch einen Abschluss dieser Überlegungen schuldig bleibt und andere zur Weiterentwicklung aufruft.

6 Die Wiederkehr der Geschichte in der neuen Mythologie

Schlegels Argumentation ist eine gewisse Zyklizität nicht abzusprechen. Damit meine ich nicht, dass seine Argumente zyklisch sind. Es gilt jedoch für seine Definition der Mythologie, beziehungsweise Poesie und des Wesens des Poeten, beziehungsweise Philosophen. Während meines Referats hatte ich die These aufgestellt, dass die Theorie von der Ontogenese und der Phylogenese13 auf Schlegels Theorie der Mythologie anwendbar sein könnte. Dies gilt in vielerlei Hinsicht. Zum einen ist die Konzeption der neuen Mythologie ein historischer Prozess. Indem der Poet sich über das Wesen der Natur und des Menschen klar wird (durch das Studium der Geschichte und der Poesie der Geschichte, das zur Mythologie wird) wird sein Geist befruchtet und daraus entsteht neue Poesie, die wiederum zur Mythologie wird. Er rekapituliert also die Phylogenese und bestimmt dadurch maßgeblich die Ontogenese seines Werks. Des Weiteren durchläuft der Poet die geistigen und spirituellen Stadien der Menschheitsgeschichte. Zunächst kommt die Poesie von der Natur her, was in historischer Hinsicht dem Schamanismus entspricht. Gleichsam ist jedoch das Individuum und dessen geistige Kreativität von zentraler Bedeutung. Dies entspricht dem Geniegedanken, wie er in der deutschen Klassik aufkam. Zuletzt ist aber der göttliche Widerschein im Menschen unabdingbar für die Schaffung wahrer Poesie. Dies lässt verschiedenste Gedankengänge aufkommen. Es bedürfte weiterer Essays dies auszuführen. Ich will jedoch nicht schließen ohne einige davon anzusprechen. Zunächst zum zyklischen Charakter. Der Mensch erkennt die Natur als Absolutum, dann erkennt er das Göttliche und schafft sich als Entsprechung das Pantheon. Nur um wieder sich selbst zum Mittelpunkt zu erklären und sich gar zu vergöttlichen. Religion und Säkularisierung sind abwechselnd von zentraler Bedeutung. All diese historischen Prozesse, so will es Schlegel, kommen im Poeten zusammen. Und in dessen Werken entsteht die neue Mythologie. “..eine neue Einheit des Denkens und Handelns...in der die Trennung von Mensch und Natur, Kunst und Leben, innerer und außerer Welt... überwunden wird...In dem...Prozess der...ichhaften Durchdringung der Natur stiftet die von Schlegel so bezeichnetet neue Mythologie eine Einheit... " 14.“Hier wird ganz deutlich, dass die Frühromantik das Zusammendenken der Extreme zu ihrem Prinzip erhebt. Das Individuum wird zur Menschheit, die wiederum als Individuum zu denken ist.“ 15. Es scheint, dass dieser Gedanke nicht so gewagt ist, wie mir dies während meinem Referat schien. Denn einige dieser Überlegungen stellt auch Heinz Gockel16 an. „Das Argument von Phylogenese und Ontogenese wird gewissermaßen umgekehrt. Was in der Menschheitsgeschichte als anfänglich mythisches Bewusstsein ausgemacht werden kann ist jedem Menschen jederzeit erfahrbar.“ 17. Zuletzt will ich noch anmerken, dass ich glaube Friedrich Schlegels Gedanken des ewigen Werdens und der Bewusstwerdung dessen was schon war, ist und sein wird, in Nietzsches Idee der „ewigen Wiederkehr“ wieder zu erkennen.

7 Offenes Ende

Mein Essay soll offen ausklingen. Ich denke die wichtigsten Punkte, die in Friedrich Schlegels Konzept der neuen Mythologie stecken, dargestellt zu haben. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass vieles unbeendet bleibt. Allein aufgrund der Einbettung des Begriffs der neuen Mythologie in das Gesamtkonzept der neuen Transzendentalpoesie. Wäre mein Essay ein Baum, so bliebe reichlich Platz für neue Triebe. Doch trotzdem denke ich, Schlegels Konzept der neuen Mythologie ist als ganzer Baum erkennbar geworden und bietet den Biologen unter den Poeten (also den Philosophen - ? M.R) genug Material um auf die DNA des Gewächses schließen zu können.

Anmerkungen
1 DlF S.193, Z. 24-26
2 KuTS S.191, Z.9-10
3 KuTS S.v 194, Z. 21-23
4 FR S. 258, Z. 7-10F
5 FS S. 50, Z. 3-4
6 KuTS S. 196, Z. 14-20
7 KuTS S. 194, Z. 6-11
8 FR S.80, Z. 8-10 Als Zitat von A.W. Schlegel
9 FR S. 80, Z. 34-36
10 DlF S. 202, Z. 29-31
11 FR S. 81, Z.30-32 - S. 82, Z. 1
12 FS S. 71, Z. 6-8
13 Dass die Phylogenese die Ontogenese rekapituliert.
14 FS S. 50, Z. 28 – S.51 Z. 2
15 FS S. 51, Z. 14-15
16 In: DlF
17 DlF S. 196, Z. 20-24




Literatur/Kürzel

KuTS: „Kritische und Theoretische Schriften“, Friedrich Schlegel. Stuttgart, Reclam 1978.

DlF: „Die alte, Neue Mythologie“, Heinz Gockel, in: „Die Literarische Frühromantik“, Hrsg. Silvio Vietta. Göttingen, Vandenhoeck 1983.

FR: „Frühromantik“, Ernst Behler. New York, De Gruyter 1992.

FS: „Friedrich Schlegel zur Einführung“, Berbeli Wanning. Hamburg, Junius 1999.













Friedrich von Schlegel

und

Das Programm der Frühromantik

Ausarbeitung des Referates vom 05.05.2008 Gerard Montague

Basierend auf: Safranski, Rüdiger. Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Hanser 2007, drittes Kapitel (48 – 69).

1 Die Gebrüder Schlegel1

Die Brüder August Wilhelm von Schlegel und Friedrich von Schlegel gelten als Mitbegründer der deutschen Romantik. Der ältere, August Wilhelm, wurde 1767 als Sohn eines evangelisch-lutherischen Pastors in Hannover geboren. Nach einem Studium der Theologie und Philologie wurde er als Literaturhistoriker, Übersetzer Schriftsteller, Indologe und Philosoph bekannt. In Jena, wo er von 1794 bis 1801 lebte, hat August Wilhelm die neue Schule der Romantik entscheidend mitgeprägt, gemeinsam mit seiner Ehefrau Caroline, mit seinem jüngeren Bruder Friedrich und dessen Frau Dorothea, sowie mit Fichte, Ludwig Tieck und Novalis. August Wilhelm gilt als Standard-Übersetzer der Werke von William Shakespeare. 1803 wurde er Hausfreund von Madame de Stael, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Romantik-Bewegung in Europa. Gestorben ist er 1845 in Bonn.

Im Mittelpunkt dieses Referates steht Karl Wilhelm Friedrich von Schlegel, der 1772 geboren wurde, ebenfalls in Hannover. Seine Kindheit hat er überwiegend beim Onkel und bei seinem Bruder August Wilhelm verbracht. Nach einer abgebrochenen kaufmännischen Lehre studierte er Rechtswissenschaften, Mathematik, Philosophie, Medizin und Klassische Philologie in Göttingen und in Leipzig. Im Alter von 21 brach er das Studium ab und beschäftigte sich vor allem mit dem griechischen Altertum. Er sah sich als 'Winckelmann' der antiken Poesie.2 1796 folgte er seinem Bruder und dessen Frau nach Jena. Das Athenäum, das zentrale "Sprachorgan" der Romantischen Schule, wurde von den beiden Brüdern 1798 gegründet.

Nach der Habilitation als Privatdozent in Jena und einer Zwischenzeit in Dresden ging er zum Studium der Kunstsammlungen nach Paris. 1804 ging er nach Köln. Seinem steigenden Interesse folgend konvertierte er 1808 zum Katholizismus und trat anschließend in den österreichischen Staatsdienst ein. 1815 wurde er geadelt und von 1815 bis 1818 war als Vertreter Österreichs am Bundestag in Frankfurt. Im letzten Jahr seines Lebens hielt er Vorlesungen an der Universität Dresden, wo er 1829 verstarb.

2 Kontext und Werdegang

Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts sollte die Bildung praktisch alle Kreise der Bevölkerung in Deutschland erreichen, aber Anfang des Jahrhunderts gehörten immerhin ca. 25% der Erwachsenen zum potentiellen Lesepublikum. Ende des 18. Jahrhunderts wird das Viellesen in bürgerlichen Kreisen epidemisch. Zum Leseleben gehört die Muße und so schrieb Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde:

O Müßiggang, Müßiggang! Du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! Einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradies blieb.3

Warum diese große Bedeutung des Lesens? Nach Safranski führte das Fehlen von städtischen Mittelpunkten zu einer Lust "…an der imaginären Gesellschaft im Buch und der reellen durch das Buch."4 Deutschland war zur damaligen Zeit keine politische Großmacht, besaß keine richtige Hauptstadt, keine weltweit tätigen Handels- und Kriegsflotten und keine Kolonien. Aus der Lust am Lesen kommt die Lust zum Schreiben und es war der Ehrgeiz der Romantiker, in ihren Schriften weiterzuleben. Die Schlegels selbst waren "…Meister darin, sich interessant zu machen." Ihre Schriften reflektierten Ihr Leben hinter der Literatur und auch umgekehrt.

Die schicksalhafte Begegnung mit Novalis erfolgte 1792 und Schlegel hatte sofort seine Genialität erkannt. "Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben, aus dem alles werden kann." Es war eine Zeit der Geheimbünde und sogenannte „Bündnisromane“ überschwemmten das Land. Deren Anknüpfungspunkte waren Jesuiten, Freimaurer, Illuminaten, Rosenkreuzer und weitere vermutliche oder reelle Geheimbünde. Man war von solchen unsichtbaren Händen fasziniert: "Das Unerklärliche ist nun nicht mehr Skandal, sondern Reiz."5 Der Begriff 'revolutionär' wird inflationär verwendet: Friedrich Schlegel spricht von der moralischen Revolution, der schönen Revolution, der ästhetischen Revolution und vom Idealismus als Revolution. Die Anarchie des Geistes gilt als Mutter einer wohltätigen Revolution. Die Kunst sollte eine Rolle als Ereignis innehaben und nicht als Produkt – die Früchte eines solchen Gedankens sind in der Kunstszene des 20. Jahrhundert voll gereift, mit Happenings und dergleichen.

Man befand sich in einem literaturbesessenen Milieu und in diesem Milieu entwickelten sich die hochfliegenden theoretischen Konzepte der Frühromantiker. Doch bevor wir zum eigentlichen Programm der Frühromantik kommen, möchte ich kurz innehalten und einen Vergleich mit der mir am besten vertrauten Kultur wagen.

3 Deutschland und die angelsächsische Welt um 1800 -Vergleiche und Kontraste

Zunächst eine Einschränkung: Es gibt im engeren Sinne keine "britische " Kulturwelt. Großbritannien, bzw. ab einem erzwungenen Act of Union im Jahr 1800 The United Kingdom of Great Britain and Ireland, besteht aus mehreren, ethnisch und kulturell diversen Teilstaaten. Die Scottish Enlightenment, mit zentralen Figuren wie David Hume und Adam Smith zeigt eine deutlich andersartige Ausprägung als die Englische, natürlich mit gegenseitigen Beeinflussungen. Allerdings: im Vergleich zum eher provinziellen Deutschland war Großbritannien eine vereinigte politische Macht. London war die unumstrittene Hauptstadt und das werdende globale Machtzentrum. Aus den Napoleonischen Kriegen sollte England als uneingeschränkter Herrscher der Weltmeere im 19. Jahrhundert hervorgehen. Große ingenieurtechnische Leistungen wie die Erfindung der Dampfmaschine und die Ausbreitung der Eisenbahnen führten in Verbindung mit billigen Rohstoffen aus den Kolonien zur industrial revolution und zu enormen sozialen Umwälzungen: Mit überwiegend positiven Ergebnissen für die Oberschichten und für die rapide wachsenden Mittelklassen aber mit katastrophalen Ergebnissen für diejenigen, die ihr Brot in den Fabriken verdienen mussten. Erst um das Jahr 1900 herum wird Deutschland als Wirtschaftsmacht aufgeholt haben.

So waren die Rahmenbedingungen der Romantik in Großbritannien gänzlich anders als in Deutschland. Man lebte und erlebte nicht in erster Linie in Büchern, sondern in der empirischen Welt. Auch in England wurde viel gelesen, aber das Lesen war – wenigstens im Vergleich zu Deutschland – eher Nebensache. Die Männer lasen überwiegend Sachliteratur, Romane waren Zeitvertreib für Frauen der gehobenen Schichten.

Die folgende Tabelle zeigt plakativ einige Kontraste auf:

D: Romantik als deutsche Affäre GB: Romantik als Nebensache

Der Vergleich mag im Detail angreifbar sein, sollte jedoch nur einige Tendenzen aufzeigen. Die Romantik hat es trotzdem in Großbritannien gegeben. Paradigmatisch für die englische Romantik ist das folgende Gedicht von William Wordsworth (1770 – 1802). Im Text werden die Unterschiede zwischen Stadt und Land verwischt, ja vollständig aufgehoben. Die Großstadt London im Morgenlicht – sicherlich schon damals arbeitsreich, laut und schmutzig – wird romantisch überhöht dargestellt, selbst die Häuser scheinen zu schlafen.


Composed Upon Westminister Bridge (1802)


Earth has not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth like a garment wear

The beauty of the morning: silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres, and temples lie
Open unto the fields, and to the sky,
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendour valley, rock, or hill;
Ne'er saw I, never felt, a calm so deep!


The river glideth at his own sweet will:
Dear God! the very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!


Für den Leser sollten Ähnlichkeiten und Unterschiede zur deutschen Romantik sichtbar werden. Die Romantik englischer Prägung war leichter, 'romantischer', literarischer, weniger philosophisch, politisch oder gesellschaftlich geprägt; aktiv tangiert waren eher die Künstler als breite bürgerliche Schichten, die aber trotzdem dankbare Rezipienten der 'schönen' Werke der Romantik waren. Nun wenden wir uns der eigentlichen Kernthematik des Referates zu.

4 Programm der Frühromantik – progressive Universalpoesie

Die bereits erwähnte Zeitschrift Athenäum war für seine sogenannten Fragmente bekannt und das Fragment Nr. 116 enthält in Kurzfassung das Programm der Frühromantik:

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen…6

Das Ziel ist die Wiedervereinigung aller getrennten Gattungen. Alles soll in Verbindung gebracht werden mit dem Geist der Poesie, eine Vermengung hergestellt werden aus Poesie und Prosa, aus Genialität und Kritik, aus Kunstpoesie und Naturpoesie. Das Kernthema heißt, die Poesie sollte lebendig und gesellig werden und das Leben und die Gesellschaft poetisch. Sämtliche Grenzen und Spezialisierungen sollten überwunden werden, die Grenzen zwischen Philosophie, Kritik und Wissenschaft; Zwischen der Logik des Alltagslebens und der freien schöpferischen Geistestätigkeit. Hegel sprach von einem "… bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist."7 Schiller hatte davon gesprochen, dass der Mensch zu einem Bruchstück geworden ist, was ihn daran hindert, die Harmonie seines Wesens zu verwirklichen. Schlegel plädierte für eine Wiedervereinigung.

Er bezog sich auf die Kultur der Griechen, die seines Erachtens nicht nur von der edlen Einfalt und stillen Größe geprägt war, sondern im Untergrund ekstatisch, wild grausam, auch pessimistisch. Waren. Safranski über die Ansichten Schlegels:

vielmehr sei es bemerkenswert, wie damals aus seinem schönen Chaos der Antriebe die gelungene Form geboren wurde. Das läßt für die Gegenwart hoffen. Denn in der Gegenwart herrscht auch Anarchie, es fehlt der Mittelpunkt, es handelt sich aber um eine langweilige, reizlose Anarchie. Es fehlt die Substanz. Man muß endlich, so Schlegel, Genialität ins Spiel bringen. Dazu aber muß man begriffen haben, daß das Leben vielleicht überhaupt nichts anderes ist als – ein großes Spiel.

Darin merkt man die Wirkung von Schillers Philosophie des Spiels

- Der Mensch sei nur dort Mensch, wo er spielt-

, die bei den Romantikern zum Spiel der Ironie wurde. Der alte Götterhimmel ist der Anfang aller Poesie. Die romantische und verspielte Ironie besteht darin, verständliche Sätze zu produzieren, die ins Unverständliche hinüberspielen, wenn man sie genauer ansieht. Und Schlegel resümiert: "Und ist sie selbst, diese unendliche Welt, nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?"8 Schlegel spricht vom offenen Kunstwerk: "Die Kritik soll die Werke nicht nach einem allgemeinen Ideal beurteilen, sondern das individuelle Ideal jeden Werkes aufsuchen."9

Zusmmenfassend meint Schlegel, es sollte eine neue Denkweise entstehen, "… die schaffende, die von der Freiheit und dem Glauben an sie ausgeht, und dann zeigt, wie der menschliche Geist sein Gesetz allem aufprägt, und wie die Welt sein Kunstwerk ist."10 Dieser Gedanke wurde von Fichte und anderen aufgegriffen und weiterentwickelt.

5 Philosophische oder literarische Bewegung?

Ist die deutsche Romantik eher eine philosophische, oder eine literarische oder schöngeistige Bewegung? Der oben zitierte fragende Satz, ob diese Welt nicht durch den Verstand aus dem Chaos gebildet wird, offenbart einen zutiefst philosophischen Ansatz Schlegels, eine Grundidee, die damals vielfach im Raum stand: Beim Idealisten Berkeley, aber auch in anderer Form bei David Hume und, bezugnehmend auf Hume, bei Immanuel Kant. Diese Idee sollte den deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts prägen. Und der deutsche Idealismus ist eine spezifisch deutsche Affäre, genau wie die deutsche Romantik. Sogar die Akteure waren teilweise die Gleichen, zum Beispiel Fichte, Hegel, Schelling. Elemente der Romantik sehe ich darüber hinaus, bis zum heutigen Tag, sowohl in der "linksphilosophischen" Entwicklung aus Hegel als auch in der "rechtsphilosophischen" Entwicklung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. So gesehen sollte aus der Frühromantik sowohl eine philosophische als auch eine literarische Bewegung entstehen. Aus der Sicht von Ludwig Tieck war die Zeit in Jena "… eine der glänzenden und heitersten Perioden meines Lebens." Wie er an August Wilhelm Schlegel 1828 schrieb:

Du und Dein Bruder Friedrich, - Schelling mit uns, wir alle jung aufstrebend, Novalis-Hardenberg, der oft zu uns herüberkam: diese Geister bildeten gleichsam ununterbrochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie.11

Deutschland das Land der Dichter und Denker? (=da gibt es Dichter & da gibt es Denker) Ausgehend vom Programm der Frühromantik können wir eher sagen:
Deutschland ein Land der Dichter-Denker.

Postskriptum

Dies Postskriptum bezieht sich auf einen weiteren englischen Romantiker, William Blake. Die Zeichnungen in seinen Songs of Experience stammen ebenfalls vom Dichter, der damit eine der von Schlegel an die Romantik gestellten Forderungen erfüllt. Somit sehen wir eine Vereinigung von Poesie, Sozialkritik und graphisch-ästhetischen Gestaltung in Blake´s "The Chimney Sweeper" .




1 Biographische Daten überwiegend aus: wikipedia.de

2 Johann Joachim Winckelmann ((1717 – 1768) gilt als Begründer der modernen Archäologie (wikipedia.de).

3 Zitiert in Safranski. 49.

4 Safranski. 50.

5 Safranski. 57.

6 Zitiert in: Safranski. 59.

7 Zitiert in: Safranski. 59.

8 Zitiert in: Safranski. 64.

9 Zitiert in: Safranski. 68.

10 Zitiert in: Safranski. 69.

11 Zitiert in: Safransk. 85.

Montag, Mai 26, 2008

KANT & ICH

ein Workshop zum Thema "Kant und 'ich'" am 6. Juni, bei dem Patricia
Kitcher und Anton Frieidrich Koch neuere Arbeiten zu Kants Ich-Theorie
vorstellen werden
und von Sebastian Rödl, Bernhard Thöle, Daniel Dohrn und mir
kommentiert werden. (Nähere Informationen unter
<http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Philosophie/philosophie/
index.php?article_id=218&clang=0
>"Kant und 'ich' "- Workshop)

Die zweite ist der sogenannte "Konstanzer Kant Kurs", zu dem vom
26.-29. Juni Quassim Cassam nach Konstanz kommen wird. (Nähere
Informationen unter
<http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Philosophie/philosophie/
index.php?article_id=219&clang=0>Konstanzer
Kant Kurs
2008).

Zu beiden Veranstaltungen sind alle interessierten Mitglieder des
Fachbereichs herzlich eingeladen. Es wäre zudem nett, wenn Sie ggf.
in Ihren Lehrveranstaltungen auf sie hinweisen könnten. Was hiermit
gern geschieht

Sonntag, Mai 25, 2008

MONOTHEISMUS DER VERNUNFT - POLYTHEISMUS DER KUNST #[Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus]

in Hegels Hand

eine Ethik. Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat –, so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, daß die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.

Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind: Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.

Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.

Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft [⇐235][236⇒] und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist's, was wir bedürfen!

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein. ([⇐236] in Quelle : Hegel 1, Ffm)

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 234-237.
Lizenz:
Kategorien:
Deutscher Idealismus

siehe auch:
Theorie der Romantik, reclam1808, 54ff dort als Autoren: Hegel/Schelling/Hölderlin
der Text entstand wohl 1 7 9 7 in Ffm & war bis 1917 unbekannt; T I T E L ?
[ ... ] erfunden von Rosenzweig


Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus


Groß muss die Freude bei Franz Rosenzweig gewesen sein, als er 1913 bei einer Auktion der Königlichen Bibliothek in Berlin ein doppelseitig mit der Handschrift Hegels bedecktes Blatt Papier erwarb. Glaubte er doch, mit diesem Papier eines der Gründungsdokumente des deutschen Idealismus gefunden zu haben, über dessen Frühgeschichte seinerzeit noch kaum Kenntnis bestand. Infolge dessen betitelte Rosenzweig seinen Fund auch »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Bei einem genaueren Blick auf den Inhalt des überschwänglich betitelten Fundes erweist sich jedoch schnell, dass der Titel mehr verspricht, als der Inhalt letztlich halten kann. Denn wenn man diesen einmal beiseite lässt, dann handelt es sich bei dem Dokument in erster Linie um nichts anderes als ein Fragment, welches eine Reihe von aneinander gereihten und zum Teil sehr radikalen Gedankenansätzen enthält, die in keiner Weise richtig durchdacht, geschweige denn begründet werden. Obwohl der Text eine klare programmatische Tendenz aufweist, kann von einer Systematik keine Rede sein und auch die Ehre, das älteste Dokument aus der Frühzeit des Idealismus zu sein, wird dem zwischen 1795 und 1797 entstandenen Text nach Ansicht einiger Rezensenten von einem noch älteren Fragment Hölderlins (»Urtheil und Seyn«) streitig gemacht. Auch die Frage nach der Autorenschaft konnte im Verlauf der Rezensionsgeschichte des Textes nicht geklärt werden. Die Elemente des Textes lassen sowohl Hegel, als auch Schelling oder Hölderlin als Autoren in Frage kommen, vielleicht sind auch alle drei an der Autorenschaft beteiligt und haben das ›Ich‹, mit dem der Autor agiert, als eine synthetische Einheit geschaffen – prinzipiell ist jedoch jeder als Autor denkbar, der sich in ihrem Kreis bewegte, über ein fundiertes philosophisches Hintergrundwissen verfügte und insbesondere mit den Werken Kants, Fichtes und Schillers vertraut war. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) dieser Ungereimtheiten hat das Dokument seit seiner ersten Publikation bei den Geisteswissenschaftlern unterschiedlicher Fakultäten eine begeisterte Aufnahme gefunden und zu einer schier unüberschaubaren Flut von Publikationen geführt. Daran hat sicherlich Rosenzweigs Titelwahl einen nicht zu unterschätzenden Anteil und man könnte sich der Meinung Safranskis anschließen, der den Text schlicht für überbewertet hält. Aber auch wenn er nicht die erhoffte Aufklärung über die Frühgeschichte des Idealismus gebracht hat und die erhaltene Aufmerksamkeit in keinem Verhältnis zu seiner eigentlichen Bedeutung stehen mag, stellt er dennoch ein bemerkenswertes Dokument dar, welches den damaligen Zeitgeist und einige der Denkrichtungen der Frühromantiker um Hegel, Schelling und Hölderlin auf eine interessante Weise widerspiegelt.

Der forsche Ton, mit dem bestehende Verhältnisse angeklagt und weit reichende Änderungen gefordert werden, stellt ein gutes Zeugnis für den damals im Geiste der französischen Revolution aufgekommenen Drang der Frühromantiker nach Freiheit und Veränderung dar. Die Leichtigkeit, mit der an den ehrwürdigen Institutionen Staat und Kirche und aller Art Tradition gerüttelt wird, erinnert an Schillers Wort: ›Der Mensch ist nur da Mensch wo er spielt‹ – und in der Tat steckt der Autor schon fast leichtfertig spielerisch mit Riesenschritten das Feld ab, dass er zu wandeln sich vornimmt.

Der erste Schritt führt zur Philosophie. Hier gedenkt der Autor, ausgehend von zwei der drei praktischen Postulate Kants (das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele) ein vollständiges System aller Postulate beziehungsweise Ideen aufzustellen und damit die Philosophie zu vollenden. Als erste Idee bezeichnet er, ganz nach Fichte, die Vorstellung des Selbst oder des Ich als einem absolut freien Wesen, das sich kraft seiner Freiheit selbst Gesetze gibt und beim Übertritt vom Nichts ins Dasein eine ganze Welt mitbringt. Dieser Gedanke der Entstehung einer Welt mit dem freien Ich aus dem Nichts heraus ist insofern bedeutsam, als die Frühromantiker glaubten, dass die von ihnen überall wahrgenommene Entfremdung und Entzweiung des Lebens auf allen Ebenen sich in dieser Welt des Ichs aufheben kann. Dieser Drang nach einer Einheit des Lebens zeigt sich bereits beim nächsten Riesenschritt, den der Autor übergangslos von der Philosophie zur Physik vollführt. Hier stellt sich dem Autor nicht die Frage, wie der Mensch angesichts einer determinierten Natur beschaffen sein muss, sondern, getreu der ersten Idee, welche Beschaffenheit die Welt angesichts der absoluten Freiheit des Menschen aufweisen muss. Die Physik hatte sich seit dem 17. Jahrhundert immer stärker von der Philosophie gelöst und hatte den Weg der Empirie und der experimentellen Vorgehensweise eingeschlagen. Der Autor möchte die Physik, die in seinen Augen nur langsam voranschreitet und unserem schöpferischen Geist wenig zu bieten hat, wieder in den Schoß der Philosophie zurückholen. Der Grundgedanke ist der, die Erfahrung, die sich als Gegenstand der Physik von den Ideen der Vernunft entfernt hat, wieder mit der Vernunft zu vereinen. Aus dieser Vereinigung verspricht sich der Autor eine Physik im Großen, die beflügelt zu großen Erkenntnissen gelangen kann. Worin die Größe einer durch die Ideen der Philosophie geleiteten Physik jedoch bestehen könnte und wie sie der Autor sich vorstellt, bleibt ungesagt und weniger als angedeutet – wie im Rausch springt der Autor weiter zum ›Menschenwerk‹, unter welchem er in erster Linie Staat und Religion versteht. An dieser Stelle zeigt sich deutlich der Einfluss Friedrich Schillers, dessen 1795 erschienenen »Briefe über die aesthetische Erziehung des Menschengeschlechts« einen bleibenden Eindruck auf viele Frühromantiker hinterlassen hat. Diese Briefe stellten einen Versuch dar, das Scheitern der französischen Revolution auf humanistischer Ebene zu erklären und dabei auch einen Ansatz vorzustellen, wie das verfehlte Ziel auf anderem Weg zu erreichen ist.

In diesen Briefen hatte Schiller den modernen Staat mehrmals mit einem mechanischen Uhrwerk verglichen, der in seinem abstrakten Funktionieren seinen Bürgern fremd bleibt.1 Auch der Autor des Systemprogramms sieht den Staat als einen Mechanismus, der seine Bürger zwangsläufig wie Funktionseinheiten behandeln muss. Über einen solchen Staat will er hinaus und so fordert er dann auch kurz und knapp, dass der Uhrwerk-Staat aufzuhören hat. Der Staat ist also abzuschaffen – aber mit welcher Alternative? Soll ein sich selbst organisierender Anarchismus oder etwa eine Demokratie an die Stelle des Despotismus treten? Auch hier bleibt der Autor dem interessierten Leser eine Antwort schuldig; er fährt fort, in dem er ankündigt, die Prinzipien einer Geschichte der Menschheit aufstellen zu wollen, welche wiederum einen Versuch zur Umstülpung aktueller Verhältnisse darstellt. Vor allem die Vernunft heuchelnden Priester sollen von ihrem ehernen Thron gestoßen und der Jenseitsglaube der christlichen Religion umgestürzt werden, mit dem Ziel, die erste Idee in jedem Individuum auch auf gesellschaftlicher und religiöser Ebene umzusetzen – als die »[a]bsolute Freiheit aller Geister, die […] weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen«.2 Hier wird der Einfluss von Fichtes Philosophie offenbar, der „in Gott“ (nichts als M.R.) die lebendige und wirkende moralische Ordnung gesehen hatte. Diese Ordnung besteht in jedem Menschen als das Sittengesetz und dieses Sittengesetz ist die einzige Autorität, die im Raum der Freiheit des Ichs noch verbleibt. Diese innere moralische Ordnung des Menschen gegen alle Widerstände auch in der Umwelt herzustellen und somit Mensch und Umwelt, Ich und Nicht-Ich in Einklang zu bringen, kann als eines der vorrangigen Interessen der Frühromantiker und damit auch des Autors des Systemprogramms geltend gemacht werden. Die alles vereinigende Idee soll dabei die Idee der Schönheit sein. Auch dieser Gedankengang trägt die Prägung Schillers, der in den oben bereits erwähnten Briefen diese vereinigende Wirkung der Idee der Schönheit bereits vorgedacht hatte. Die absolute Freiheit, die dem Menschen zufallen soll, kann sich nur infolge der vereinigenden Wirkung der Idee der Schönheit einstellen. Schiller sieht das ästhetische Urteil als frei von den Zwängen der materiellen Welt und der sittlichen Ordnung - es ist nicht bestimmt, sondern auf eine unendliche Weise bestimmbar und somit sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne frei. Der ästhetische Zustand ist damit auch der fruchtbarste hinsichtlich Erkenntnis und Moralität und um diesen fruchtbarsten Zustand in möglichst allen Lebensbereichen zu etablieren, fordert der Autor des Systemprogramms auch, dass das ästhetische Urteil alle anderen Urteile leiten oder zumindest begleiten soll. Dass der Poesie im weiteren Sinn der Wert verliehen wird, der Idee der Schönheit zu korrespondieren und allen übrigen Künsten und auch Wissenschaft und Philosophie überlegen zu sein, kann sicherlich auf Hölderlins zurückgeführt werden – der, wenn er kein Autor war, denselben zumindest beeinflusst haben dürfte.

Im letzten Schritt kündigt der Autor eine Idee an, die mit der Niederschrift im Systemprogramm das erste Mal die Bühne des geistigen Lebens betritt – zumindest wird dies im Systemprogramm behauptet. Um den Mangel an sinnlicher Religion – sowohl bei dem ›großen Haufen‹ als auch bei den Philosophen – auszugleichen und einen »Monotheismus der Vernunft und des Herzens [und einen] Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst«3 zu etablieren, schlägt der Autor die Errichtung einer Mythologie der Vernunft vor. Dabei sollen die leitenden Ideen mythologisch und die Mythologie vernünftig werden, um auf der einen Seite die Ideen für das Volk interessant zu machen und auf der anderen eine Mythologie zu errichten, für die der Philosoph sich nicht schämen muss. Dieser Gedankengang kann jedoch nicht die Originalität vorweisen, die der Autor für ihn beansprucht. Denn er geht eigentlich auf Immanuel Kant zurück, der ihn in ähnlicher Form bereits in dem philosophischen Entwurf »Zum ewigen Frieden« und vor allem in der kleineren Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« gedacht und darauf hingewiesen hatte, dass sich die Elemente einer Volksreligion, die im Systemprogramms erwähnt werden, bereits im antiken Griechenland finden lassen.4 Von einer solchen Mythologie der Vernunft verspricht sich der Autor die höchstmögliche Stufe gesellschaftlicher Einheit und Freiheit. Gebildete und Ungebildete sollen sich die Hand reichen, bisherige gesellschaftliche Schranken fallen und Voreingenommenheiten verschwinden und eine allgemeine Freiheit und Gleichheit aller Geister hervorbringen. Mit diesem letzten Schritt schlägt der Autor einen Versuch vor, die Einheit, welche die Idee der Schönheit auf der Ebene der Ideen herbeizuführen in der Lage sei, auch auf gesellschaftlicher Ebene herzustellen. Dieser Versuch bewegt sich wiederum im Geiste der ›Briefe‹ Schillers, welcher zuallererst der Idee der Schönheit eine solchermaßen umfassende vereinigende Wirkung zugedacht hatte. Im Gegensatz zu Schiller distanziert der Autor des Systemprogramms sich jedoch nicht von der französischen Revolution; er begnügt sich nicht damit, auf eine allmähliche, innere Reform der Denkweise hinwirken zu wollen. Im Systemprogramm wird explizit der Umsturz gefordert und zur Andeutung des Endziels auf gesellschaftlicher Ebene dient die Parole der französischen Revolution, so dass man davon ausgehen kann, dass der Autor auch handfestere Methoden beim Umsetzen seiner Ideen gedanklich nicht ausgeschlossen hat.

Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus zeigt sich sicherlich in seinem agitativen Charakter am ehesten vom Geist der frühen Romantik geprägt. Mit spürbarer Wut werden Missstände angeprangert und mit spielerischer Leichtigkeit umfassende Veränderungen angekündigt, wie etwa die Revolution etablierter Wissenschaften oder die Errichtung einer neuen Religion. Die Kühnheit der Thesen wirkt mitreißend und die immer wieder auftauchende Unbekümmertheit ansteckend – dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gedanken des Systemprogramms im Grunde rationalistisch sind.

Safranski sieht in dem Dokument in erster Linie ein ›volkspädagogisches Projekt‹, das dazu dienen soll, die sonst unverdaulichen Ideen durch eine mythologische Einkleidung dem Volk schmackhaft zu machen. Denn der Autor glaubte sich, so Safranski, geistig weit über dem Volk stehend und sucht nach Mitteln, um selbiges im Sinne der Ideen zu erziehen.5 Der Mythologie kommt im Systemprogramm in der Tat in gewissem Sinn die Rolle von Schmuck zu und dennoch erfüllt sie eine wichtige Funktion: Indem sie die abstrakten Ideen versinnlicht, wirkt sie als eine auf gesellschaftlicher Ebene wirkende verbindende Kraft. Als eine solche Kraft kann sie jedoch nicht nur in eine Richtung wirken – und hier greift Safranskis Urteil vielleicht ein wenig zu kurz: Denn durch eine Mythologie der Vernunft würde, gesetzt, eine solche wäre geschaffen, nicht nur das Volk zur Vernunft erzogen werden, sondern der Philosoph auch zur Mythologie. Diese Erziehung beschränkt sich nicht darauf, den Gedanken äußerlich eine andere Form zu geben. Indem der Autor des Systemprogramms eine solche Erziehung auch des Philosophen für die Einstellung einer Einheit für notwendig erklärt, scheint es so, als habe die Mythologie doch einen Wert, der über den des bloßen Tands hinausgeht: denn die Klugheit, die dem Volk fehlt kann nur in ihrer Verbindung zur Mythologie und zur Schönheit eine Einheit stiften. Die Mythologie erhält somit den Status eines Bindegliedes zwischen der Vernunft und der Idee der Schönheit und als solches ist sie, bedenkt man die vereinheitlichende Macht dieser Idee, auch für den Philosophen vonnöten und zwar nicht nur als ein Mittel, um von anderen wahrgenommen zu werden, sondern als Element des Denkens selbst. Indem das Denken der Ideen mythologisiert wird, wird es also auch ästhetisiert und käme somit, gesetzt, es gäbe einen graduellen Übergang, dem höchsten Akt der Vernunft, der nach Meinung des Autors des Systemprogramms nur ein ästhetischer Akt sein kann, näher.

Mit dem Mythologiebegriff, den Schleiermacher wenige Zeit später prägte, hat die Mythologie der Vernunft natürlich wenig zu tun. Sie ist kein ›Fenster ins Unendliche‹, sondern ›nur‹ ein Mittel, um die Idee der Schönheit auf gesellschaftlicher Ebene zur Wirkung zu bringen. Umgesetzt worden ist das Systemprogramm nie und auch eine Mythologie der Vernunft ist in der Form nicht geschaffen worden, auch wenn es später, bei Nietzsche und Wagner noch einen ähnlichen Versuch gegeben hat.

Ob das Fragment nun das Werk Schellings, Hölderlins oder Hegels ist, ob es ein Exzerpt aus einem Brief oder einer exakteren, systematischeren und mittlerweile verlorenen Abhandlung darstellt, das Ergebnis einer durchzechten Nacht präsentiert oder als Manifest gedacht war, spielt eigentlich keine so große Rolle. Fest steht, dass es einen einzigartigen Einblick in die Denkweise der Frühromantiker erlaubt und auf die spätere Entwicklung der drei mutmaßlichen Autoren verweist – und allein schon deshalb lohnt sich eine Lektüre des Inhalts des gefalteten Blattes allen offen gebliebenen Fragen und formalen Unklarheiten zum Trotz auch heute noch.


29.05.2008 Autor: Sebastian Bock






Quellen:


Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus … http://www.zeno.org/

F.-P- Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989;

R. Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.

1 Hansen, 352;

2 Systemprogramm

3 Systemprogramm;

4 Hansen, 466–468;

5 Safranski, 154-155;