Donnerstag, April 08, 2010
Katapulte / Moritz Scherzer
SLOTERDIJK 2009 Anthropotechnik
Teil I/Kapitel 5 im Überblick
(präsentiert von Moritz Scherzer)
das Überwinden von Gewohnheiten erfordert ähnlich viel Kraft wie der Prozess des Katapultierens
Ablegen von Gewohnheiten = Sezession
Sezession führt zu Klassenbildung: Hörer des Imperativs „Du musst dein Leben ändern“, diejenigen also, die bereit sind, ihr Leben zu ändern (obere Klasse) und den anderen Klassen, also alle, die ihr gewohnheitsmäßiges Handeln nicht erkennen bzw. hinterfragen
bildliche Veranschaulichung: Habitus-Pool; obere Klasse steht am Beckenrand und schaut den anderen Klassen beim Schwimmen zu
Erkennen von Gewohnheiten ist jedoch nur ein erster Schritt: es muss sofort der Kampf mit ihnen aufgenommen werden
verschiedene Kampftypen:
(1) Konservative, die mit angezogener Handbremse kämpfen, um nach der Niederlage sagen zu können, das Gewohnte sei eben doch das Bessere, Überlegene, und
(2) solche, die in quasi-deterministischer Manier behaupten, die Gewohnheiten würden richtiges Leben verhindern, da sie fremdbestimmt seien.
Anlehnung an Karl Jaspers: Hochkulturen Palästinas, Persiens, Chinas, Indiens und Griechenlands als die Geburtsstunde der Vernunft: zum ersten Mal sichtbar, wie Menschen alte Pfade verlassen und neue Wege einschlagen; Schaffung revolutionärer Kulturleistungen, die, auch wenn sie das Werk Einzelner waren, doch Auswirkungen auf ganze Gesellschaft hatten
wichtigste Auswirkung der Befreiung von alten Gewohnheiten: Kluft zwischen den am höchsten gesteigerten Individuen und dem Rest der Gesellschaft seither (seit dem Entstehen der oben erwähnten Hochkulturen) rasant gewachsen; außerdem: Bildung einer eigenen Meinung
Phänomen der Spaltung der Gesellschaft in solche, die sich von ihren Gewohnheiten befreien und jenen, die dies nicht tun, nennt Sloterdijk „Achsenzeiteffekt“
Basisparadoxie aller Universalismen: von Wenigen erbrachte Kulturleistungen, von denen alle profitieren und die die Welt verändern, werden auch nur von ganz Wenigen verstanden
wenn Mensch Trägheit in seinem Innersten erkannt hat, gelangt er zu drei Erkenntnissen: (1) dadurch, dass der Mensch feststellt, dass er von Leidenschaften besetzt ist, wird ihm die Notwendigkeit bewusst, diese in den Griff zu bekommen;
(2) durch Kenntnisnahme seiner Gewohnheiten leuchtet ihm ein, dass nicht sie ihn, sondern er sie beherrschen muss;
(3) es wird ihm klar, dass er nur dann zu vernünftigem Denken fähig ist, wenn sich sein Gemüt in ausgeglichenem Zustand befindet und er nicht von verwirrenden Gedanken geplagt wird
Was hat Philosophie mit Athletik zu tun? Sloterdijk sieht im Wort „Philosophie“ Anspielungen auf zwei wichtige Athletentugenden im antiken Griechenland verborgen: Philotimie (Liebe zum Ruhm, der den Siegern der Wettkämpfe zuteil wird) und Philoponie (Lust auf körperliche Anstrengung)
Akrobaten versus Athleten: Akrobaten führen Athleten vor, wie das Unmögliche möglich gemacht werden kann, demonstrieren dabei eine gewisse Lässigkeit, die ihr Handeln und Auftreten sehr beeindruckend erscheinen lässt;
Asketen dagegen beteiligen sich lediglich als Zuschauer am Spektakel und sind davon überzeugt, nicht selbst aktiv daran teilnehmen zu können, wobei viele Asketen im Laufe der Zeit das Stadion vorzeitig verlassen: werden religiös, treten eine Beamtenlaufbahn an oder ziehen in die Wildnis
wer sich etwas bestimmtes angewöhnt, kann sich dies jedoch auch wieder abgewöhnen, indem er die neue Verhaltens- bzw. Denkweise regelmäßig einübt (Erkenntnis aus der Psychologie)
Ursprung einer ganzen wissenschaftlichen Disziplin: der Pädagogik
Pädagogen vergleicht Sloterdijk mit Dompteuren: Aufgabe, Kinder dazu zu befähigen, ihre Talente zu erkennen und das Beste daraus zu machen
Pädagogik = angewandte Mechanik: menschliche Trägheit (also Gewohnheiten) setzt er mit träger Masse gleich, wobei die Trägheitskräfte dergestalt genutzt werden sollen, dass sie die Trägheit überwinden
Vergleich mit Hebelgesetz: Mensch muss am längeren Hebel sitzen, um Hebeleffekt zu nutzen; selbst wenn seine Kraft schwächer ist als die Kraft am anderen Hebel, er muss Ausdauer zeigen, dann wird er langfristig seine Gewohnheiten besiegen
Platonismus, Brahmanismus und Taoismus beruhen genau auf dieser Idee der Pädagogik als Mechanik
Mensch fürchtet den Tod
Lähmung der Aktivitäten → Gefährdung der Übungsmacht
Möglichkeiten zur Überwindung der Todesfurcht: (1) Askese (Beispiele hierfür sind die indische und die japanische Kultur): Einzelner nimmt sich das Recht, sein Leben selbst zu beenden, sofern es ihm nicht mehr lebenswert erscheint; (2) Mythenformulierung (z. B. in ägyptischen Jenseitslehren oder im Christentum): aufrichtiger Lebensstil von entscheidender Bedeutung
berühmte Beispiele, in denen die, wie er es nennt, „Emanzipation vor dem Tod“ besonders markant hervortritt: Sokrates und Jesus Christus; beide ergeben sich ihrem Schicksal freiwillig, obwohl beide zu Unrecht verurteilt wurden, verzichten auf die Flucht vor der Vollstreckung des Todesurteils
Sterbenmüssen wird zu Sterbenkönnen
Schilderung der drei Evangelisten von Markus über Matthäus und Lukas bis hin zu Johannes weist Entwicklung vom Müssen zum Können (in Bezug auf das Sterben Jesu) auf
Markus und Matthäus erzählen vom Essigschwamm, den Jesus getrunken hat und daran schreiend zugrunde gegangen ist
Jesus hat wohl gegen sein Schicksal bis zum Schluss angekämpft
Lukas hingegen zitiert Jesus mit den Worten: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“
Jesus hat seine Kreuzigung als den Willen Gottes bereitwillig akzeptiert
Johannes geht sogar noch ein Stück weiter und fügt dem Lukas-Evangelium Jesu Worte „Es ist vollbracht!“ hinzu → verstärkt diesen Eindruck
weiteres Beispiel für die „Athletisierung des christlichen Todeskampfes“: Tertullian, der versucht – im Angesicht des Krieges der Römer zur Christenverfolgung in Südgallien – Gefangenen, die auf ihre Exekution warten, Hoffnung zu machen, indem er ihre Lage mit jener der Krieger kontrastiert und das Leben im Kerker (und die sichere Hinrichtung) als für einen Christen besser als ein Leben als Krieger bezeichnet
das, was Tertullian den Insassen der südgallischen Gefängnisse abverlangt, ist eine athletische Höchstleistung, in Tertullians Worten manifestiert sich – so sieht es Sloterdijk – die „Logik des christlichen Akrobatismus“
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen