Montag, November 02, 2009

Ordensregel vorgetragen von Léon Homeyer

WS 2009 UNIVERSITÄT KONSTANZ Philosophie
V.M. Roth „AnthropoTechnik“ , nach Peter Sloterdijk 2009
MO 16 -20 D431



2.NOV:
Slot I2, 208 -232 Wittgenstein / Leon

9.NOV:
Wilhelm Kamlah

16.NOV:
Radolfzell, Galerie 3ART: Himmelsleiter, cf.Slot 198-203 / Mike
(Gäste willkommen)

23.NOV:
Binswanger / Foucault Slot 234-55 „Haus des Wissens“ / Jonathan

30.NOV:
Heraklit / Heidegger Slot I3 und I4/ Chris

7.DEZ:
C U R H O M O ARTISTA
Warum Menschen Kunsten Slot I5a 298ff /
Diogenes / Nietzsche / Jaspers

14. DEZ:
A R S MORIENDI Sokrates / Jesus / Egon
SterbensKunst Slot I5b 315 -325


Sloterdijk hat im Anschluss an Nietzsche seine These eingeführt, das kulturelle Leben sei maßgeblich durch Vertikalspannungen geprägt: diesem Zug nach oben durch asketische Handlungsmuster in den verschiedensten Ausformungen gelte es nachzugehen. Die Steigerung in immer "unwahrscheinlichere" Zustände (mount improbable) erklärt er, wenn auch nicht biologistisch, so doch als evolutionsbedingte Tatsache des Menschen, der sich selbst zu erhöhen versucht. Vertikalität eröffnet eine Dimension der Differenzierung, nicht nur die Möglichkeit zur Unterscheidung, sondern nahezu den Zwang. Diese Vertikaldifferenzierung möchte Sloterdijk nun nicht „aus der Matrix von Herrschaft und Unterwerfung“1 herleiten, sondern eine „ethisch kompetentere und empirisch adäquatere Alternative“2 anbieten. Statt auf Klassengesellschaft (Abgrenzung von "Kritischer Theorie") zielt seine Argumentation auf eine Disziplingesellschaft ab, in welcher sich die Unterschiede zwischen den Menschen aus dem Grad des Bewusstseins über und der Intensität der Anstrengungen in den „richtigen“ Übungen ergeben. Auf der Suche nach diesen Differenzierungen im kulturellen Leben lässt Sloterdijk Wittgenstein antreten, mit der Absicht, dessen Sprachspieltheorie als Übungs- und Askesetheorie weiter zu denken. Hierbei werden Sprachspiele zu asketischen Handlungen. In der Nachahmung und Wiederholung eines Sprachspiels nach einer Grammatik zeigt sich ihr Übungscharakter.
Doch alles ist Sprachspiel, so die landläufige Ansicht über Wittgensteins Theorie, die durch die Ordinary Language Philosophy propagiert wird. Jede alltägliche Sprechhandlung ist anteilig die Praxis eines grammatikalischen Regelsystems und könnte also eine asketische Handlung sein. Fehlt der Drang sich abzusetzen, der Zug nach oben? Sloterdijks ethischer Imperativ droht sich in Anlehnung an diese Interpretation Wittgensteins über die ganze Erde zu verstreuen, und so muss er ein elitäres Bestreben bei Wittgenstein ausmachen. Dies führt im Text über einige biografische Anmerkungen aus dem Leben Wittgensteins zu kurzen Blitzlichtern seiner Theorie.
„Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.“3, schreibt Ludwig Wittgenstein in eins seiner Notizhefte 1949. Sloterdijk nimmt diese Notiz als Ausgangspunkt einer Betrachtung von Wittgensteins Spiritualität, seines Kulturverständnisses geprägt durch die Sezessionsbewegungen innerhalb der Wiener Kunstszene seiner Jugend und seiner Rolle als Lehrender.
Die Vokabel „Ordensregel“ in Wittgensteins Gebrauch überrascht nur auf den ersten Blick. Sloterdijk unterstreicht mit verschiedenen Zitaten Wittgensteins Spiritualität. „Ich hätte mein Leben zum Guten wenden sollen und ein Stern werden. Ich bin aber auf der Erde sitzengeblieben und nun gehe ich nach und nach ein.“4, schreibt Wittgenstein seinem Freund Paul Engelmann 1921. Jemand der ein Stern werden wolle, der würde insgeheim der Überzeugung sein, einmal ein solcher gewesen zu sein, so Sloterdijk. Wittgenstein als ehemaliges Lichtwesen, als den weltlichen „Schweinereien“ ferner Beobachter, hat einen Abstieg auf der Jakobsleiter hinter sich, der ihn zum Prototypen eines inversen Akrobaten macht (dem Leichtes schwer, Unmögliches leicht falle). Die Komplexität ist ihm natürlich, während die weltliche Banalität ihn vor Probleme stellt. Ein weiteres Mal an Engelmann: „Wohl fühle ich mich nicht, aber nicht, weil mir meine Schweinerei zu schaffen machte, sondern innerhalb der Schweinerei.“5 Sloterdijk beschreibt Wittgensteins Leben als einen Abstieg auf den befremdlichen Boden der Tatsachen und als anhaltende Askese, nur das Minimum an „unvermeidlichen Lebensvollzügen auszuführen“6 und sich die Luzidität der höchsten Höhen beizubehalten.
Von dieser Warte aus lasse sich das Interesse Wittgensteins an der monastischen Lebensform neu bewerten. Im Gegensatz zum alltäglichen Lebensvollzug wird das Leben im Kloster durch ein Kunstsystem aus nicht weiter zu begründenden Lebensregeln, welche mit größter Bedachtsamkeit befolgt werden, definiert. Man wählt diese Lebensform bewusst und wird nicht wie ein Ferkel hinein gesetzt in den Stall. Die Handlungen sind reduziert auf das Wesentliche und es herrscht Strenge und Wachsamkeit in ihrer Ausführung.
Wittgensteins Kulturbegriff versickert somit nicht in den zahllosen Furchen des Alltäglichen: du musst dich konzentrieren auf ein Leben, das sich absetzt durch klar definierte Regeln. „Kultur im anspruchsvollen Sinne des Wortes entsteht in seinen Augen erst durch die Absonderung der wirklich Kultivierten von der sonstigen sogenannten Kultur, diesem Aggregat aus besseren und schlechteren Gewohnheiten, die in ihrer Summe kaum mehr als die übliche Schweinerei ergeben.“7 Dieses Absetzen ist ein Lebensmotto/Thema, dessen Ursprung Sloterdijk in Wittgensteins Jugend ausmacht. Wittgensteins sezessionistischer Kulturbegriff, so Sloterdijk, sei maßgeblich durch den Kontakt und die Erfahrungen mit der Wiener Kunstszene geprägt. Sein Vater unterstützte als Mäzen die Abspaltung der Künstlergruppe um Gustav Klimt, Koloman Moser und Josef Hoffmann von dem traditionellen und konservativen Wiener Künstlerverein. Ein Jahrhundert stirbt und ein neues bricht an. Die kulturelle Avantgarde ist geprägt durch die Trennung von alten Mustern und Schnörkeln. Eine neue Klarheit wird verfolgt, die sich auch klar abzusetzen sucht. Adolf Loos veröffentlicht sein Werk "Ornament und Verbrechen" und arbeitet an einem neuen Formverständnis, das sich auf einen Funktionalismus beruft. Der sezessionistische Grundtenor sieht erst in einem Abstieg zu den elementaren Formen die Möglichkeit zu einem Aufstieg in der Kultur. Er konzentriert sich auf die primären Formen, die Grammatiken und ihre konstruktiven Prinzipien.
Sloterdijk vergleicht diese Sezession der Wiener Ateliers mit der Gründung der Akademie Platons. Auch sie setzte sich, auch räumlich, von der alltäglichen Kultur Athens ab und suchte hinter ihren Mauern und im angrenzenden Gymnasium (Sportstätte) nach der „guten Form“ des Lebens. Es ist ein Bruch mit dem schicksalhaften Bild der Welt und akademische Praxis, die zu einem neuen Verständnis führt. Unabwendbare Tragik wird zu einem Fehler, der ein „säkularisiertes, revidierbares Verhängnis“8 ist. Für Sloterdijk folgt Wittgenstein in seiner Theorie eben diesem Topos und versteht unter Kultur die Arbeit an den persönlichen und kollektiven Fehlern. Dies lässt Wittgensteins Werk als praktizierten ethisch-ästhetischen Elitismus erscheinen, der keineswegs Anknüpfungspunkte für egalitäre oder relativistische Ansätze bietet. Warum Wittgensteins Sprachspiele nicht als Askesen, die sich von dem gewöhnlichen, alltäglichen Gebrauch der Sprache absetzen, indem sie den Versuch darstellen, die „Lebensformen durch logische Analyse und technische Rekonstruktion“9 zu erklären, rezipiert wurden, lastet Sloterdijk dem lehrenden Wittgenstein an. Er habe seinen Schülern durch seine Zweideutigkeit nur die halbe Lektion offenbart und indem er sich "zwischen Trainer und Messias" nicht habe entscheiden können, sein Verstanden-werden erschwert.
Was bleibt nach diesem Verständnis von Wittgenstein, sind sein Bemühen durch die Sprachspieltheorie auf die „mikro-asketischen Module“10, derer wir uns alltäglich bedienen, aufmerksam zu machen und mit diesem Bewusstsein für Grammatik eine Läuterung ihres Gebrauchs einzuleiten. Aus einem unbewussten Gebrauch von Sprache und Leben sollen sich durch diese Analyse wenige herauskristallisieren, die in die Ordensregel - Kultur übernommen werden können. „Sprachspiel ist alles, der lebende Kristall und die Schweinerei, es kommt auf die Nuancen an.“11 Der Übende muss sich der Übung als Übung bewusst werden um seine Selbstveränderung aktiv zu lenken.

Anmerkungen:
1 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), S. 208
2 Ebd.
3 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994) S. 149
4 Paul Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen (Wien/München: Oldenbourg, 1970) S. 32
5 Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien (München: Pieper, 1984) S. 316
6 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), S. 212
7 Ebd., S. 216
8 Ebd., S. 221
9 Ebd., S. 223
10 Ebd., S. 228
11 Ebd., S. 230

DISKUSSION:

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