Mittwoch, November 25, 2009

Großes Haus des Wissens

Motto
"... indessen seit geraumer Zeit bekannt ist, dass Lernen ausschließlich durch direkte Teilnahme ... stattfindet." Großes Haus 247

I. Tragische Vertikalität
1. Herkunft des Titels
Sloterdijk erklärt anhand der tragischen Vertikalität, dass Foucault sich auch mit der Vertikalspannung auseinander gesetzt hat.

Der Titel „Tragische Vertikalität“ findet sich in einer von Sloterdijk herausgegebenen Textsammlung Philosophie Jetzt!: Foucault – Ausgewählt und vorgestellt von Pravu Mazumdar, 1998. Dort findet sich ein Auszug aus einer frühen Schrift von Michel Foucault. „Tragische Vertikalität“ ist eine Zwischenüberschrift in dem Text. Sie stammt bei genauerer Betrachtung nicht von Foucault.

Das Original der Schrift von Foucault stammt aus dem Jahre 1954: Le rêve et l’existence – Traum und Existenz. Foucault hatte eine über 90-seitige Einleitung zum nur 41-seitigen Text von Ludwig Binswanger geschrieben. Ludwig Binswanger, 1881 in Kreuzlingen geboren 1966 dort gestorben, war Psychiater und Leiter des Sanatoriums Bellevue in Kreuzlingen.

2. Vertikalität allein führt zum Absturz

In der Schrift von 1954 finden sich keine Überschriften. Der Text von Foucault enthält aber einen Abschnitt in der von der vertikalen Achse die Rede ist: Siehe Foucault, 1998, S. 100f.

Baumeister Solness ist ein Theaterstück von Henrik Ibsen, 1892. Solness erfährt einen fabelhaften Aufstieg, nachdem das Elternhaus seiner Ehefrau abgebrannt ist. Dabei sind seine beiden Kinder gestorben. Er fühlt sich zunächst schuldig, verdrängt dies jedoch mit seinem Streben nach Erfolg. Nach zehn Jahre soll er einen Richtkranz aufhängen und stürzt dabei zu Tode.

Hieran kann man sehen, dass die Vertikalität des frühen Foucaults zum Absturz führt. Das ist gerade das tragische an ihr.

3. Die Vertikalität kommt zum Stehen

Der gereifte Foucault weiß, dass Arbeit an der Vertikalität nicht nur eine Sache der ursprünglichen Vorstellungskraft ist. Sie sei jetzt Kraft der Selbstgestaltung, in der sich die ethische Kompetenz des Individuums verdichtet, so Sloterdijk. (S. 239)

Verführung zum Exzess wird durch Asketik korrigiert. Dabei wird auf den späten Nietzsche zurückgegriffen. „Foucault hatte verstanden, dass der Dionysiker scheitert, wenn man ihm nicht einen Stoiker einpflanzt.“ (S. 239)

Abgrenzung zu christlich-platonischem Stil. Augustinus von Hippo: Geh nicht nach draußen, kehr in dich selbst zurück, im inneren wohnt die Wahrheit. Wenn Du transcendierst, denke daran, dass es deine Vernunftseele ist, die über dich hinausgeht. (S. 239, Fn. 57)

Der Exzess ist das schlichte Außer-sich-geraten. Das Über-sich-hinaus-Gehen ist durch die Übung gewährleistet. Somit bannt Foucault das Tragische in der Vertikalität.

II. Verortung: Foucault ein Wittgensteinianer
1. Übergang
Wittgenstein unfreiwilliger Nietzscheaner.
Foucault hingegen minifestes und freiwilliges Gegenstück, also Nietzscheaner.

F nimmt Arbeit dort auf, wo W sie liegengelassen hat. Komplexe zusammengesetzte Sprachspiele werden zu Diskursen. Dies betrifft ganze Wissenschaftszweige. Sprachspiel bricht mit kognitivem Element und bringt so die Handlung in der Sprache zum Vorschein.

2. Diskurs bei Foucault – Umdeutung der episteme

Foucault bricht mit epistemistischen Vorurteil in der Wissenschaftstheorie und zeigt, dass Disziplinen performative Systeme sind und nicht „Widerspiegelung“ der Wirklichkeit.
Foucault benutzt ἐπιστήμη – episteme als exquisite Ironie. Der Begriff wird nicht im klassischen Sinn als Erkenntnis, Wissen, Verständnis verwendet, sondern um die Bedeutung des Praktizierens erweitert. Diskurse sind somit ein Amalgam aus Wissenseffekt und exekutiver Kompetenz.

3. Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Wittgenstein und Foucault sind sich in ihrer praktischen Methode ganz nah. Unterschiede finden sich jedoch auf dem Mount Improbable. Von Sloterdijk auf S. 185ff eingeführt in Anlehnung an den Evolutionsbiologen Richard Dawkins: Climbing Mount Improbable, 1996.

„Während Wittgenstein es erstaunlich genug findet, wenn Lebensformen so weit geklärt werden können, bis das Dasein auf der Hochebene dem Aufenthalt in einem von Logikern bewohnten tibetischen Kloster gleicht, stürzt sich Foucault in die Rolle des Bergbauingenieurs, der mit Tiefenbohrungen an verschiedenen Stellen die Höhe des Gebirges und die Zahl seiner verborgenen Faltungen offenlegt. […] Der Imperativ: ‚Du musst Dein Leben ändern!’ heißt hier: Du selber bist der Berg des Unwahrscheinlichen, und wie du dich faltest, so ragst du empor.“ (S. 243)

Sehr nah sind sie sich wieder in der Wirkungsgeschichte: Wittgensteins Sprachspiele wurden von der Ordinary-Language Philosophie missverstanden. Foucaults genaue Analysen von Asylen, Klinken, Psychiatrien, Polizeien und Gefängnissen werden als verquere Form der Gesellschaftskritik missverstanden. Dass in der Analyse asketische Selbstübung lag um auch einen dritten Selbstmordversuch zu verhindern, begriff keiner seiner Leser. Sloterdijk vermutet, dass Foucault sich selbst nicht immer darüber im Klaren war. (S. 244)

III. Der Berg wird bestiegen
1. Methode
„Nach Foucault darf die Philosophie wieder daran denken, zu werden, was sie gewesen war, bevor das kognitivistische Missverständnis sie aus der Bahn warf – ein Exerzitium der Existenz.“ (S. 245)

Die Philosophie ist reine Disziplin und reiner Mehrkampf ohne sich auf abgezählte Einzeldisziplinen festzulegen. Ein Durchqueren, im Sinne einer Abkürzung, ist nicht möglich. „Eine Metadisziplin gibt es naturgemäß nicht – daher auch keine Einführung in die Philosophie, die nicht schon von Anfang an selber die maßgebliche Übung wäre“ (S. 245f.)

2. Aussichten auf eine ungeheure Landschaft

Nach dieser Einführung liegt die ganze Szene offen dar. Mit Wittgenstein gesprochen, eröffnet sich der Blick auf die ungeheuren Landschaften des Michel Foucault.
„Es ist die unfassbar weite Landschaft der Disziplinen. Ihre Summe macht die Routinebasis aller Kulturen und aller trainierbaren Kompetenzen aus. Hier haben wir de facto und de iure die ‚breiteste und längste Thatsache die es gibt’ vor Augen. Der von Foucault exemplarisch begangene Weg führt […] zu einer allgemeinen Disziplinik als einer Enzyklopädie der Könnensspiele.“ (S. 247)

Die Reichweite dieser Landschaften wird man jedoch erst ermessen können, wenn es eine Allgemeine Disziplinik gibt. Sloterdijk veranschlagt schon einmal 100 Jahre dafür. Eine Einteilung in 13 Kategorien deutet er nur an:
1. Akrobatik und Ästhetik
2. Athletik (allgemeine Sportartenkunde)
3. Rhetorik und Sophistik
4. Therapeutik
5. Epistemik (einschl. der Philosophie)
6. Allgemeine Beruf-Kunde
7. Maschinistische Techniken-Kunde
8. Administravistik, dazu gehört Politik und Recht
9. Enzyklopädie der Meditationssysteme
10. Ritualistik
11. Sexualpraxiskunde
12. Gastronomik
13. offene Liste kultivierungsfähiger Aktivitäten


Foucault wirkte in 1, 3, 4, 5, 8, 10 und 11. Gewöhnlicher Philosoph beschränkt sich auf 5, mit gelegentlichen Ausflügen nach 8 oder 1 und 3. Foucault hat die panathletischen Qualitäten und ist somit Prototyp des praktizierenden Philosophen.

3. Zwischen den Disziplinen
Abschließend fügt Sloterdijk noch ein paar Gedanken an, wie die Disziplinen miteinander umgehen. Jede Disziplin befindet sich in ständiger Krise und scheidet so, was richtig und unrichtig für sie ist. Daher besitz jede Disziplin für sich eine ihr eigentümliche Vertikalspannung. Kritik aus einer fremden Disziplin wird es geben. Sie schätzen oder missbilligen die Ergebnisse von Übungen in fremden Sphären nach eigenen Maßstäben.

Zwei Methoden der Kritik: Wertentzug und Seinsentzug.

Der Diszipliniker bedient sich nur der ersten Methode. Er besteigt den Mount Improbable der Disziplinen. Der Moralist besteigt den Berg erst gar nicht. Der gewöhnliche Moralismus ist die Kritik durch den Nicht-Bergsteiger.

Dass selbst die frühen Christen sich nie auf den Standpunkt der Moralisten gestellt haben, belegt Sloterdijk. Diese schrieben Ordensregeln, um auf dem Mount Improbable zu leben. Sie waren somit Diszipliniker, die eine eigene Disziplin (er)fanden. Dazu auch das Beispiel mit den Gladiatoren: Gegenüber den ungeliebten Gladiatorenkämpfe wird nicht bloß behauptet, sie sollten nicht sein, sondern ihnen werden Disziplinen gegenüber gestellt und mit positver Wertschätzung aufgeladen. (S. 251)

IV. Vom Mount Improbable zum Haus des Wissens
Sloterdijk spricht nur kurz vom Haus des Wissens (S. 247). Für ihn treffen sich die Philosophen heute auf dem Mount Improbable. Der Weg nach oben führt über mehrere Einzeldisziplinen und er ist nur übend zu gehen. Keine Abkürzung durch eine Metadisziplin steht uns offen.

Der Hausbau wird an einer Stelle im Rahmen der tragischen Vertikalität angesprochen. Solness der Architekt stürzt bei dem Versuch, immer höher hinaus zu kommen.

Zum Haus des Wissens kommt man, wenn man die Methode, d.h den Weg, betrachtet, die Sloterdijk wählt, um den Absturz zu verhindern: üben, üben, üben.

Es gibt noch einen weiteren Weg. Mount Improbable, so deutet Sloterdijk an, gibt es nicht. Er wird aufgefaltet von den Menschen, die ihn besteigen (S. 243). Anders das Haus des Wissens. Es wird geschaffen von den Menschen, die in ihm leben.

Die praktizierten Disziplinen sind es auch, die Jürgen Mittelstraß anspricht: Die Häuser des Wissens, 1998, S. 65.

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