Mittwoch, November 25, 2009

WS 2009 UNIVERSITÄT KONSTANZ Philosophie
V.M. Roth „AnthropoTechnik“ , nach Peter Sloterdijk 2009
MO 16 -20 D431

30.NOV:
Heraklit / Heidegger Slot I3 (und I4)/ Chris


ἤθος ανθρώπῳ δαίμον - ethos anthropo daimon



I. ἤθος ανθρώπῳ δαίμον
(1) Dem Menschen gewöhnlicher Aufenthaltsort ist Gott.
= Der gewöhnliche Aufenthaltsort des Menschen ist Gott.
(2) Dem Menschen Gott ist der gewöhnliche Aufenthaltsort.
= Der Gott des Menschen ist der gewöhnliche Aufenthaltsort.

II. ἤθος χοῖρῳ δαίμον - ethos choiro daimon
(1) Der gewöhnliche Aufenthaltsort des Schweins ist Gott.
(2) Der Gott des Schweins ist der gewöhnliche Aufenthaltsort.

III. ἤθος πολλοίς δαίμον - ethos pollois daimon
(1) Der gewöhnliche Aufenthaltsort der Vielen ist Gott.
(2) Der Gott der Vielen ist der gewöhnliche Aufenthaltsort.

IV. ἤθος Ἡράκλειτῳ δαίμον
(1) Der gewöhnliche Aufenthaltsort des Heraklit ist Gott.
(2) Der Gott des Heraklit ist der gewöhnliche Aufenthaltsort.


V. ἤθος Σλοτέρδεικῳ δαίμον
(1) Der gewöhnliche Aufenthaltsort des Sloterdijk ist Gott.
(2) Der Gott des Sloterdijk ist der gewöhnliche Aufenthaltsort.

Noch eine sehr schöne Übersetzung, die ich gefunden habe:

Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal.

Aus: Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 156

von Jonathan


7.DEZ:
C U R H O M O ARTISTA / Marianne
Warum Menschen Kunsten Slot I5a 298ff /
Diogenes / Nietzsche / Jaspers

14. DEZ:
A R S MORIENDI Sokrates / Jesus / Egon
SterbensKunst Slot I5b 315 -325

Großes Haus des Wissens

Motto
"... indessen seit geraumer Zeit bekannt ist, dass Lernen ausschließlich durch direkte Teilnahme ... stattfindet." Großes Haus 247

I. Tragische Vertikalität
1. Herkunft des Titels
Sloterdijk erklärt anhand der tragischen Vertikalität, dass Foucault sich auch mit der Vertikalspannung auseinander gesetzt hat.

Der Titel „Tragische Vertikalität“ findet sich in einer von Sloterdijk herausgegebenen Textsammlung Philosophie Jetzt!: Foucault – Ausgewählt und vorgestellt von Pravu Mazumdar, 1998. Dort findet sich ein Auszug aus einer frühen Schrift von Michel Foucault. „Tragische Vertikalität“ ist eine Zwischenüberschrift in dem Text. Sie stammt bei genauerer Betrachtung nicht von Foucault.

Das Original der Schrift von Foucault stammt aus dem Jahre 1954: Le rêve et l’existence – Traum und Existenz. Foucault hatte eine über 90-seitige Einleitung zum nur 41-seitigen Text von Ludwig Binswanger geschrieben. Ludwig Binswanger, 1881 in Kreuzlingen geboren 1966 dort gestorben, war Psychiater und Leiter des Sanatoriums Bellevue in Kreuzlingen.

2. Vertikalität allein führt zum Absturz

In der Schrift von 1954 finden sich keine Überschriften. Der Text von Foucault enthält aber einen Abschnitt in der von der vertikalen Achse die Rede ist: Siehe Foucault, 1998, S. 100f.

Baumeister Solness ist ein Theaterstück von Henrik Ibsen, 1892. Solness erfährt einen fabelhaften Aufstieg, nachdem das Elternhaus seiner Ehefrau abgebrannt ist. Dabei sind seine beiden Kinder gestorben. Er fühlt sich zunächst schuldig, verdrängt dies jedoch mit seinem Streben nach Erfolg. Nach zehn Jahre soll er einen Richtkranz aufhängen und stürzt dabei zu Tode.

Hieran kann man sehen, dass die Vertikalität des frühen Foucaults zum Absturz führt. Das ist gerade das tragische an ihr.

3. Die Vertikalität kommt zum Stehen

Der gereifte Foucault weiß, dass Arbeit an der Vertikalität nicht nur eine Sache der ursprünglichen Vorstellungskraft ist. Sie sei jetzt Kraft der Selbstgestaltung, in der sich die ethische Kompetenz des Individuums verdichtet, so Sloterdijk. (S. 239)

Verführung zum Exzess wird durch Asketik korrigiert. Dabei wird auf den späten Nietzsche zurückgegriffen. „Foucault hatte verstanden, dass der Dionysiker scheitert, wenn man ihm nicht einen Stoiker einpflanzt.“ (S. 239)

Abgrenzung zu christlich-platonischem Stil. Augustinus von Hippo: Geh nicht nach draußen, kehr in dich selbst zurück, im inneren wohnt die Wahrheit. Wenn Du transcendierst, denke daran, dass es deine Vernunftseele ist, die über dich hinausgeht. (S. 239, Fn. 57)

Der Exzess ist das schlichte Außer-sich-geraten. Das Über-sich-hinaus-Gehen ist durch die Übung gewährleistet. Somit bannt Foucault das Tragische in der Vertikalität.

II. Verortung: Foucault ein Wittgensteinianer
1. Übergang
Wittgenstein unfreiwilliger Nietzscheaner.
Foucault hingegen minifestes und freiwilliges Gegenstück, also Nietzscheaner.

F nimmt Arbeit dort auf, wo W sie liegengelassen hat. Komplexe zusammengesetzte Sprachspiele werden zu Diskursen. Dies betrifft ganze Wissenschaftszweige. Sprachspiel bricht mit kognitivem Element und bringt so die Handlung in der Sprache zum Vorschein.

2. Diskurs bei Foucault – Umdeutung der episteme

Foucault bricht mit epistemistischen Vorurteil in der Wissenschaftstheorie und zeigt, dass Disziplinen performative Systeme sind und nicht „Widerspiegelung“ der Wirklichkeit.
Foucault benutzt ἐπιστήμη – episteme als exquisite Ironie. Der Begriff wird nicht im klassischen Sinn als Erkenntnis, Wissen, Verständnis verwendet, sondern um die Bedeutung des Praktizierens erweitert. Diskurse sind somit ein Amalgam aus Wissenseffekt und exekutiver Kompetenz.

3. Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Wittgenstein und Foucault sind sich in ihrer praktischen Methode ganz nah. Unterschiede finden sich jedoch auf dem Mount Improbable. Von Sloterdijk auf S. 185ff eingeführt in Anlehnung an den Evolutionsbiologen Richard Dawkins: Climbing Mount Improbable, 1996.

„Während Wittgenstein es erstaunlich genug findet, wenn Lebensformen so weit geklärt werden können, bis das Dasein auf der Hochebene dem Aufenthalt in einem von Logikern bewohnten tibetischen Kloster gleicht, stürzt sich Foucault in die Rolle des Bergbauingenieurs, der mit Tiefenbohrungen an verschiedenen Stellen die Höhe des Gebirges und die Zahl seiner verborgenen Faltungen offenlegt. […] Der Imperativ: ‚Du musst Dein Leben ändern!’ heißt hier: Du selber bist der Berg des Unwahrscheinlichen, und wie du dich faltest, so ragst du empor.“ (S. 243)

Sehr nah sind sie sich wieder in der Wirkungsgeschichte: Wittgensteins Sprachspiele wurden von der Ordinary-Language Philosophie missverstanden. Foucaults genaue Analysen von Asylen, Klinken, Psychiatrien, Polizeien und Gefängnissen werden als verquere Form der Gesellschaftskritik missverstanden. Dass in der Analyse asketische Selbstübung lag um auch einen dritten Selbstmordversuch zu verhindern, begriff keiner seiner Leser. Sloterdijk vermutet, dass Foucault sich selbst nicht immer darüber im Klaren war. (S. 244)

III. Der Berg wird bestiegen
1. Methode
„Nach Foucault darf die Philosophie wieder daran denken, zu werden, was sie gewesen war, bevor das kognitivistische Missverständnis sie aus der Bahn warf – ein Exerzitium der Existenz.“ (S. 245)

Die Philosophie ist reine Disziplin und reiner Mehrkampf ohne sich auf abgezählte Einzeldisziplinen festzulegen. Ein Durchqueren, im Sinne einer Abkürzung, ist nicht möglich. „Eine Metadisziplin gibt es naturgemäß nicht – daher auch keine Einführung in die Philosophie, die nicht schon von Anfang an selber die maßgebliche Übung wäre“ (S. 245f.)

2. Aussichten auf eine ungeheure Landschaft

Nach dieser Einführung liegt die ganze Szene offen dar. Mit Wittgenstein gesprochen, eröffnet sich der Blick auf die ungeheuren Landschaften des Michel Foucault.
„Es ist die unfassbar weite Landschaft der Disziplinen. Ihre Summe macht die Routinebasis aller Kulturen und aller trainierbaren Kompetenzen aus. Hier haben wir de facto und de iure die ‚breiteste und längste Thatsache die es gibt’ vor Augen. Der von Foucault exemplarisch begangene Weg führt […] zu einer allgemeinen Disziplinik als einer Enzyklopädie der Könnensspiele.“ (S. 247)

Die Reichweite dieser Landschaften wird man jedoch erst ermessen können, wenn es eine Allgemeine Disziplinik gibt. Sloterdijk veranschlagt schon einmal 100 Jahre dafür. Eine Einteilung in 13 Kategorien deutet er nur an:
1. Akrobatik und Ästhetik
2. Athletik (allgemeine Sportartenkunde)
3. Rhetorik und Sophistik
4. Therapeutik
5. Epistemik (einschl. der Philosophie)
6. Allgemeine Beruf-Kunde
7. Maschinistische Techniken-Kunde
8. Administravistik, dazu gehört Politik und Recht
9. Enzyklopädie der Meditationssysteme
10. Ritualistik
11. Sexualpraxiskunde
12. Gastronomik
13. offene Liste kultivierungsfähiger Aktivitäten


Foucault wirkte in 1, 3, 4, 5, 8, 10 und 11. Gewöhnlicher Philosoph beschränkt sich auf 5, mit gelegentlichen Ausflügen nach 8 oder 1 und 3. Foucault hat die panathletischen Qualitäten und ist somit Prototyp des praktizierenden Philosophen.

3. Zwischen den Disziplinen
Abschließend fügt Sloterdijk noch ein paar Gedanken an, wie die Disziplinen miteinander umgehen. Jede Disziplin befindet sich in ständiger Krise und scheidet so, was richtig und unrichtig für sie ist. Daher besitz jede Disziplin für sich eine ihr eigentümliche Vertikalspannung. Kritik aus einer fremden Disziplin wird es geben. Sie schätzen oder missbilligen die Ergebnisse von Übungen in fremden Sphären nach eigenen Maßstäben.

Zwei Methoden der Kritik: Wertentzug und Seinsentzug.

Der Diszipliniker bedient sich nur der ersten Methode. Er besteigt den Mount Improbable der Disziplinen. Der Moralist besteigt den Berg erst gar nicht. Der gewöhnliche Moralismus ist die Kritik durch den Nicht-Bergsteiger.

Dass selbst die frühen Christen sich nie auf den Standpunkt der Moralisten gestellt haben, belegt Sloterdijk. Diese schrieben Ordensregeln, um auf dem Mount Improbable zu leben. Sie waren somit Diszipliniker, die eine eigene Disziplin (er)fanden. Dazu auch das Beispiel mit den Gladiatoren: Gegenüber den ungeliebten Gladiatorenkämpfe wird nicht bloß behauptet, sie sollten nicht sein, sondern ihnen werden Disziplinen gegenüber gestellt und mit positver Wertschätzung aufgeladen. (S. 251)

IV. Vom Mount Improbable zum Haus des Wissens
Sloterdijk spricht nur kurz vom Haus des Wissens (S. 247). Für ihn treffen sich die Philosophen heute auf dem Mount Improbable. Der Weg nach oben führt über mehrere Einzeldisziplinen und er ist nur übend zu gehen. Keine Abkürzung durch eine Metadisziplin steht uns offen.

Der Hausbau wird an einer Stelle im Rahmen der tragischen Vertikalität angesprochen. Solness der Architekt stürzt bei dem Versuch, immer höher hinaus zu kommen.

Zum Haus des Wissens kommt man, wenn man die Methode, d.h den Weg, betrachtet, die Sloterdijk wählt, um den Absturz zu verhindern: üben, üben, üben.

Es gibt noch einen weiteren Weg. Mount Improbable, so deutet Sloterdijk an, gibt es nicht. Er wird aufgefaltet von den Menschen, die ihn besteigen (S. 243). Anders das Haus des Wissens. Es wird geschaffen von den Menschen, die in ihm leben.

Die praktizierten Disziplinen sind es auch, die Jürgen Mittelstraß anspricht: Die Häuser des Wissens, 1998, S. 65.

Freitag, November 20, 2009

briefly

Ich sehe im SternFlug den Selbstbezug und das über sich
Hinauswachsen...
Adrian Deplazes (ZH)

Dienstag, November 17, 2009

Einladung Philosophische Praxis




WS 2009 UNIVERSITÄT KONSTANZ Philosophie
V.M. Roth „AnthropoTechnik“ , nach Peter Sloterdijk 2009
MO 16 -20 D431

(Gäste willkommen)

23.NOV:
Binswanger / Foucault Slot 234-55 „Haus des Wissens“ / Jonathan

30.NOV:
Heraklit / Heidegger Slot I3 und I4/ Chris

7.DEZ:
C U R H O M O ARTISTA / Marianne
Warum Menschen Kunsten Slot I5a 298ff /
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Montag, November 16, 2009

HimmelsLeiter?




Die aktuelle HimmelsLeiter aufsteigend absteigend ist das www (uns verbindend / im Krieg ...?)

Im Anschluss an Lesung und Diskussion gibt es dotatelier - Animation
von Neil Horne & Rita Grewatsch (Sydney / Berlin)

Philosophische Praxis ist das Philosophieren.

Wie aber angemessen philosophieren in unserer Zeit? Peter Sloterdijks aktueller Beitrag zur AnthroopoTechnik versucht hineinzulocken in solch ausgeübtes Philosophieren, kunstnah, kenntnisreich, mehr vitalistisch als akademisch. Ein allg. Hinweis darauf, dass Sloterdijk 2009 aufzufassen ist als eine Langfassung und Ausarbeitung des kurzen Vortrags MENSCHENPARK, der 1997 in Basel fast von der Öffentlichkeit unbemerkt, dann aber im Spätsommer/Herbst 1999 erneut vorgetragen zum Anlass einer hitzigen Debatte wurde. Von diesem ersten Sturm im MedienGlas (Menschen"züchtung"/ "fatale" vs. optionale Geburt) ist die zweite Debatte (Religion - ausgehend vom Anfang des Buchs 2009) und die dritte (gegen den "Steuerstaat" - weitgehend unabhängig vom Buch) zu unterscheiden.

Sehr einfühlsam zur Sprache bringt PS am Anfang der Rede (Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Sonderdruck edition suhrkamp, Ffm 1999, 7 ff) das befreundende Wesen philosophischer Bücher, jener "dickeren Briefe" an -noch unbekannte- "ferne Freunde". (Siehe erotologische Sicht... p.9) Jene Telekommunikation, die in unserem Kulturkreis (erst getragen von einer kleinen Oberschicht alphabetisierter Gebildeter) seit 2500 Jahren stattfindet, gibt Cicero den namen HUMANITAS und die user sind "Humanisten". Zu Beginn der Neuzeit wird man hieran andocken können. Ganz unterbrochen ist dieser Traditionszusammenhang bis heute nicht. PS ist in diesem Sinne wie vor ihm Nietzsche und Heidegger einer dieser Humanisten. Doch wie sie will auch er zugleich kritischer Kritiker, nicht nur Weitersager sein. Auch er zielt auf "eine Verführung in die Ferne" (p. 10), ist "erwärmt" von den angekommenen Sendungen und meldet sich als beitretender Freund und seinerseits "inspirierender Absender", a man of grammar and glamour: "Wer lesen und schreiben kann, dem werden auch andere Unmöglichkeiten leichtfallen." (p. 11)

Dem folgt dann die zeitdiagnostische These (p.14) auf dem Fuße: "moderne Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren." Dies schließt freilich die Selbstmarginalisierung des Autors ein, er müsste den nicht-humanistischen MedienSkandal geradezu herbeidenken, um dem zu entgehen. Doch wahrscheinlich hilft nicht einmal das nachhaltig aus der diagnostizierten Verlegenheit.

Freitag, November 13, 2009

Vertikalzug ?




16.NOV:
Radolfzell, Galerie 3ART : Die Himmelsleiter und Sloterdijks VERTIKALZUG, cf.Slot 198-203

Montag, November 09, 2009

LP, Handlungsschemata & Allg.Anthropologie

WS 2009 UNIVERSITÄT KONSTANZ Philosophie
V.M. Roth „AnthropoTechnik“ , nach Peter Sloterdijk 2009
MO 16 -20 D431

Texte: Kamlah / Lorenzen, Logische Propädeutik
Kamlah, Philosophische Anthropologie


9.NOV:
Wilhelm Kamlah

16.NOV:
Radolfzell, Galerie 3ART: Himmelsleiter, cf.Slot 198-203 / Mike
(Gäste willkommen)

23.NOV:
Binswanger / Foucault Slot 234-55 „Haus des Wissens“ / Jonathan

30.NOV:
Heraklit / Heidegger Slot I3 und I4/ Chris

7.DEZ:
C U R H O M O ARTISTA / Marianne
Warum Menschen Kunsten Slot I5a 298ff /
Diogenes / Nietzsche / Jaspers

14. DEZ:
A R S MORIENDI Sokrates / Jesus / Egon
SterbensKunst Slot I5b 315 -325

Dienstag, November 03, 2009

Debatte: Sloterdijk ein Sozialdemokrat?

Kollabierte Vertikalspannung


Du mußt dein Leben ändern! - die Parole, mit der Sloterdijk seit dem Frühjahr die mediale Öffentlichkeit in der Anredeform des generalisierten Du agitiert, lässt sich, mit einem Lieblingsbegriff von ihm, auch in die Aufforderung übersetzen: mehr Vertikalspannung! Der Ausdruck steht für das Gegenteil der intellektuellen Entspannung in der Horizontalen des Unernstes und einer pandemischen Trivialisierung, des Behagens in der Kultur an deren substantiellem Nullpunkt. Den Sündenbock der kulturellen Abwärtsspirale macht der unter die Dekadenzdiagnostiker Gegangene in einem „subversiven Egalitarismus“ der politischen und mehr noch der intellektuellen Linken aus. Dem hält er die empirische Ungleichheit des Könnens entgegen, wie sie aus dem Wettbewerb des Sich-Übens als der praktischen Seite der Vertikalspannung hervorgeht, ein sloterdijksches Exzellenzcluster, das wie sein hochschulpolitischer Zwilling behauptet, die Besten zum Wohle des Ganzen nach Vorne zu bringen.



Die Rezeptur und der Glaube an ihre Wirksamkeit haben Konjunktur traditionell im konservativen oder 'rechtsliberalen' Milieu. Der Zeitgeist, der inzwischen wieder von dorther weht, zeigt sich Sloterdijks Gedanken aufgeschlossen. Die Rezensenten seines jüngsten Buches haben sie durchweg goutiert und nicht gerade mit analytischem Scharfblick traktiert. Sodass ihnen entgangen ist, worin das Riskante seines „riskanten Denkens“ (so Hans-Ullrich Gumbrechts Typisierung in DIE ZEIT Nr. 41) besteht. Ich habe dies an anderer Stelle ausgeführt (siehe meine Beiträge im Netz: Theomag – Internetzeitschrift für Religion und Ästhetik Nr: 59/2009 sowie online-Magazin Textem.de vom 18.09.09); hier sei zusammenfassend bloß meine These wiederholt.



Der einmal gegen den verhängnisvollen Furor der „kopernikanischen Mobilmachung“ den Gedanken einer „ptolemäischen Abrüstung“ ins Spiel brachte, setzt jetzt ganz auf den Überbietungsgestus à la Nietzsche, Gipfelstürmerei mit Höhenrausch. Durch aristokratisch-sportive wahlweise asketisch-artistische Übung, die Praxis der Vertikalspannung, werden Einzelne im Aufstiegswettstreit untereinander als Einzelne besser und besser, bis „anthropotechnisch“ antrainierte Fitness die Besten, das Mittelfeld und den Rest im aufwindigen Schlepptau, auf Augenhöhe gebracht hat mit dem „Inkommensurablen“, “Ungeheuren“, „bedingungslos Überfordernden“ der globalen Gegenwartskrise, der drohenden ökologischen und Klimakatastrophe zumal. In einem von denen, die gekonnt genug ihr Leben geändert haben, sprich der ethisch-spirituellen Meritokratie, inaugurierten weltweiten „Ko-Immunismus“ sollen dann „die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens“ gepflegt werden.



Punkt der Kritik kann nicht sein, dem Vorhaben die edle Gesinnung abzusprechen, auch nicht in erster Linie zu monieren, dass Sloterdijk die einer Lösung der Globalkrise im Wege stehenden politischen, sozialen, kommunikativen etc. Hindernisse mit seinem „absoluten Imperativ“ kurzerhand überspringt. Das Riskante des von ihm Gedachten kommt in den Blick, sobald in Erwägung gezogen wird, dass die propagierte Umkehr womöglich gar keine ist. Folgt doch das auf Perfektibilität setzende Metanoia-Tremolo Sloterdijks genau der Steigerungslogik und Optimierungsobsession, die charakteristisch sind für die rasende, ökonomisch und ökologisch außer Rand und Band geratene Moderne. Dass das Kurativ hierfür ausgerechnet in einem Virtuosen- und Artistenwettlauf liegen soll, ist ebenso wenig überzeugend, wie die subtile Schuldzuweisung an „die Vielen“, dass ihre „Verweigerung die Spannung (verschärft), die über dem humanen Kollektiv liegt“ - jene schon von Rilke perhorreszierten „Leibes- und Lebensschwächlinge“ mit der „gewohnten Verwahrlosung“, gegen die er die „Trainerautorität“ seiner Steigerungskünstler (diese haben „mit einem Gott trainiert“) aufbietet. - Kurz, ein anthropologisches Selbstverbesserungsprojekt nach dem Strickmuster Sloterdijks geht das Risiko ein, dass es statt der intendierten Kehrtwendung lediglich auf ein Mehr desselben hinausläuft. Der riskante Denker ist einem Trugschluss der fatalen Sorte erlegen, der allerdings bei gedanklicher Vertikalspannung sofort ins Auge sticht.



Nun hat Axel Honneth in DIE ZEIT (Nr. 40) eine 'neue Sloterdijk-Debatte' ausgelöst, indem er dessen wie eine Vorwahlkampfrede daherkommende Tirade gegen die (so Sloterdijk wörtlich) „Kleptokratie“ des Umverteilungsstaates in der FAZ (10.06.09) aufs Korn nahm: Im Klartext laute Sloterdijks Vorschlag, man solle den Sozialstaat abschaffen und durch die (wieder Sloterdijks Worte) „Gabe“ einer „schenkenden Tugend der Wohlhabenden“ ersetzen. Dass der Angegriffene (wiederum in der FAZ, 26.09.09) mit einem Bekenntnis zur Sozialdemokratie antwortete („unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen oder ... semi-sozialistischen Logik“), also jener politischen Philosophie, in welcher der durch ihn im Buch geschmähte Egalitarismus doch einen säkularen Ausdruck gefunden hat – dieser bei jedem nicht vollkommen naiven Leser Heiterkeit provozierende „Kollapsus“ lässt unglücklicherweise jene andere, sachlich schwerwiegendere Inkonsistenz, auf die wir im vorangehenden aufmerksam gemacht haben, aus dem Blick geraten. Dabei dürfte die eher unterhaltsame Ungereimtheit des 'Sozialdemokraten Sloterdijk' einem vorübergehenden Spannungsabfall im Wort- und Textegenerator Sloterdijk geschuldet sein, wie er unvermeidlich erscheint bei jemandem, der unentwegt auf Sendung sein möchte. Vielleicht sollte daher im Falle des gestressten Medienphilosophen Gnade vor Recht ergehen, vorausgesetzt, man geht, wo hinlänglich stringente Textkonvolute es zulassen, in der Sache mit ihm umso strenger ins Gericht.



So wie es Christoph Menke exemplarisch in seinem Debattenbeitrag (DIE ZEIT Nr. 43) vorführt. An Sloterdijks Text weist er auf, wie dessen Vertikalspannungs- und Elitegedanke ein Essential der humanen oder zivilisierten Gesellschaft ideologisch zu unterminieren droht: das basale Gleichheitsprinzip einer allen geschuldeten Anerkennung diesseits und unabhängig von Könnensbezeugung oder erbrachter Leistung. Das sind nicht, wie Karl-Heinz Bohrer in seiner Replik (FAZ 21.10.09) allen Ernstes weismachen möchte, „Lobhudeleien der Gleichheit“, und es geht auch nicht darum, wie er absurder Weise mutmaßt, den „Freigeist Sloterdijk“ mundtot zu machen. Ihm wird lediglich widersprochen, wo seine weltfremde Big-Spender-Euphorie die Bereitschaft signalisiert, hart erstrittene Basics der Zivilisiertheit wie Makulatur vom Tisch zu wischen. Um eine ebenso alarmistische Keule zu schwingen wie vormals Bohrers Alternative „Kapitalismus oder Barbarei“: Respekt oder Barbarei – institutionell verankerte Achtung in der Demokratie oder noble Willkür in einer refeudalisierten Gesellschaft, darum geht es! Menkes Sloterdijk-Kritik, die sich auf die Verteidigung der 'Anerkennungsgleichheit' konzentriert, ist noch moderat, beachtet man, dass Sloterdijk die durch gesellschaftlich erzeugte Ungleichheit aufgeworfene Frage nach der sozialen Gerechtigkeit als praktisch obsolet verabschiedet bzw. dass sie im heroischen „Immundesign“ der von den Eliten iniziierten Apokalypseabwehr als quantité négligeable untergeht. Wer, wie man mit Heidegger sagen könnte, so „groß denkt“ wie der Vertikalstreber Sloterdijk, bei dem steht zu fürchten, dass es ihn nicht weiter interessiert, wenn die Gesellschaft sehenden Auges Opfer produziert: Anerkennungsverlierer, Demoralisierte, Ausgeschlossene, denen nur ein Zyniker einzig das „Du musst dein Leben ändern“ mit auf den Weg gibt.



Hans-Willi Weis
aus: Textem.de
23. Oktober 2009

Siehe auch: Richard D. Precht, "zu einem seltsamen Hickhack" im SPIEGEL 45 /2009, 150-52

Montag, November 02, 2009

Ordensregel vorgetragen von Léon Homeyer

WS 2009 UNIVERSITÄT KONSTANZ Philosophie
V.M. Roth „AnthropoTechnik“ , nach Peter Sloterdijk 2009
MO 16 -20 D431



2.NOV:
Slot I2, 208 -232 Wittgenstein / Leon

9.NOV:
Wilhelm Kamlah

16.NOV:
Radolfzell, Galerie 3ART: Himmelsleiter, cf.Slot 198-203 / Mike
(Gäste willkommen)

23.NOV:
Binswanger / Foucault Slot 234-55 „Haus des Wissens“ / Jonathan

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Sloterdijk hat im Anschluss an Nietzsche seine These eingeführt, das kulturelle Leben sei maßgeblich durch Vertikalspannungen geprägt: diesem Zug nach oben durch asketische Handlungsmuster in den verschiedensten Ausformungen gelte es nachzugehen. Die Steigerung in immer "unwahrscheinlichere" Zustände (mount improbable) erklärt er, wenn auch nicht biologistisch, so doch als evolutionsbedingte Tatsache des Menschen, der sich selbst zu erhöhen versucht. Vertikalität eröffnet eine Dimension der Differenzierung, nicht nur die Möglichkeit zur Unterscheidung, sondern nahezu den Zwang. Diese Vertikaldifferenzierung möchte Sloterdijk nun nicht „aus der Matrix von Herrschaft und Unterwerfung“1 herleiten, sondern eine „ethisch kompetentere und empirisch adäquatere Alternative“2 anbieten. Statt auf Klassengesellschaft (Abgrenzung von "Kritischer Theorie") zielt seine Argumentation auf eine Disziplingesellschaft ab, in welcher sich die Unterschiede zwischen den Menschen aus dem Grad des Bewusstseins über und der Intensität der Anstrengungen in den „richtigen“ Übungen ergeben. Auf der Suche nach diesen Differenzierungen im kulturellen Leben lässt Sloterdijk Wittgenstein antreten, mit der Absicht, dessen Sprachspieltheorie als Übungs- und Askesetheorie weiter zu denken. Hierbei werden Sprachspiele zu asketischen Handlungen. In der Nachahmung und Wiederholung eines Sprachspiels nach einer Grammatik zeigt sich ihr Übungscharakter.
Doch alles ist Sprachspiel, so die landläufige Ansicht über Wittgensteins Theorie, die durch die Ordinary Language Philosophy propagiert wird. Jede alltägliche Sprechhandlung ist anteilig die Praxis eines grammatikalischen Regelsystems und könnte also eine asketische Handlung sein. Fehlt der Drang sich abzusetzen, der Zug nach oben? Sloterdijks ethischer Imperativ droht sich in Anlehnung an diese Interpretation Wittgensteins über die ganze Erde zu verstreuen, und so muss er ein elitäres Bestreben bei Wittgenstein ausmachen. Dies führt im Text über einige biografische Anmerkungen aus dem Leben Wittgensteins zu kurzen Blitzlichtern seiner Theorie.
„Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.“3, schreibt Ludwig Wittgenstein in eins seiner Notizhefte 1949. Sloterdijk nimmt diese Notiz als Ausgangspunkt einer Betrachtung von Wittgensteins Spiritualität, seines Kulturverständnisses geprägt durch die Sezessionsbewegungen innerhalb der Wiener Kunstszene seiner Jugend und seiner Rolle als Lehrender.
Die Vokabel „Ordensregel“ in Wittgensteins Gebrauch überrascht nur auf den ersten Blick. Sloterdijk unterstreicht mit verschiedenen Zitaten Wittgensteins Spiritualität. „Ich hätte mein Leben zum Guten wenden sollen und ein Stern werden. Ich bin aber auf der Erde sitzengeblieben und nun gehe ich nach und nach ein.“4, schreibt Wittgenstein seinem Freund Paul Engelmann 1921. Jemand der ein Stern werden wolle, der würde insgeheim der Überzeugung sein, einmal ein solcher gewesen zu sein, so Sloterdijk. Wittgenstein als ehemaliges Lichtwesen, als den weltlichen „Schweinereien“ ferner Beobachter, hat einen Abstieg auf der Jakobsleiter hinter sich, der ihn zum Prototypen eines inversen Akrobaten macht (dem Leichtes schwer, Unmögliches leicht falle). Die Komplexität ist ihm natürlich, während die weltliche Banalität ihn vor Probleme stellt. Ein weiteres Mal an Engelmann: „Wohl fühle ich mich nicht, aber nicht, weil mir meine Schweinerei zu schaffen machte, sondern innerhalb der Schweinerei.“5 Sloterdijk beschreibt Wittgensteins Leben als einen Abstieg auf den befremdlichen Boden der Tatsachen und als anhaltende Askese, nur das Minimum an „unvermeidlichen Lebensvollzügen auszuführen“6 und sich die Luzidität der höchsten Höhen beizubehalten.
Von dieser Warte aus lasse sich das Interesse Wittgensteins an der monastischen Lebensform neu bewerten. Im Gegensatz zum alltäglichen Lebensvollzug wird das Leben im Kloster durch ein Kunstsystem aus nicht weiter zu begründenden Lebensregeln, welche mit größter Bedachtsamkeit befolgt werden, definiert. Man wählt diese Lebensform bewusst und wird nicht wie ein Ferkel hinein gesetzt in den Stall. Die Handlungen sind reduziert auf das Wesentliche und es herrscht Strenge und Wachsamkeit in ihrer Ausführung.
Wittgensteins Kulturbegriff versickert somit nicht in den zahllosen Furchen des Alltäglichen: du musst dich konzentrieren auf ein Leben, das sich absetzt durch klar definierte Regeln. „Kultur im anspruchsvollen Sinne des Wortes entsteht in seinen Augen erst durch die Absonderung der wirklich Kultivierten von der sonstigen sogenannten Kultur, diesem Aggregat aus besseren und schlechteren Gewohnheiten, die in ihrer Summe kaum mehr als die übliche Schweinerei ergeben.“7 Dieses Absetzen ist ein Lebensmotto/Thema, dessen Ursprung Sloterdijk in Wittgensteins Jugend ausmacht. Wittgensteins sezessionistischer Kulturbegriff, so Sloterdijk, sei maßgeblich durch den Kontakt und die Erfahrungen mit der Wiener Kunstszene geprägt. Sein Vater unterstützte als Mäzen die Abspaltung der Künstlergruppe um Gustav Klimt, Koloman Moser und Josef Hoffmann von dem traditionellen und konservativen Wiener Künstlerverein. Ein Jahrhundert stirbt und ein neues bricht an. Die kulturelle Avantgarde ist geprägt durch die Trennung von alten Mustern und Schnörkeln. Eine neue Klarheit wird verfolgt, die sich auch klar abzusetzen sucht. Adolf Loos veröffentlicht sein Werk "Ornament und Verbrechen" und arbeitet an einem neuen Formverständnis, das sich auf einen Funktionalismus beruft. Der sezessionistische Grundtenor sieht erst in einem Abstieg zu den elementaren Formen die Möglichkeit zu einem Aufstieg in der Kultur. Er konzentriert sich auf die primären Formen, die Grammatiken und ihre konstruktiven Prinzipien.
Sloterdijk vergleicht diese Sezession der Wiener Ateliers mit der Gründung der Akademie Platons. Auch sie setzte sich, auch räumlich, von der alltäglichen Kultur Athens ab und suchte hinter ihren Mauern und im angrenzenden Gymnasium (Sportstätte) nach der „guten Form“ des Lebens. Es ist ein Bruch mit dem schicksalhaften Bild der Welt und akademische Praxis, die zu einem neuen Verständnis führt. Unabwendbare Tragik wird zu einem Fehler, der ein „säkularisiertes, revidierbares Verhängnis“8 ist. Für Sloterdijk folgt Wittgenstein in seiner Theorie eben diesem Topos und versteht unter Kultur die Arbeit an den persönlichen und kollektiven Fehlern. Dies lässt Wittgensteins Werk als praktizierten ethisch-ästhetischen Elitismus erscheinen, der keineswegs Anknüpfungspunkte für egalitäre oder relativistische Ansätze bietet. Warum Wittgensteins Sprachspiele nicht als Askesen, die sich von dem gewöhnlichen, alltäglichen Gebrauch der Sprache absetzen, indem sie den Versuch darstellen, die „Lebensformen durch logische Analyse und technische Rekonstruktion“9 zu erklären, rezipiert wurden, lastet Sloterdijk dem lehrenden Wittgenstein an. Er habe seinen Schülern durch seine Zweideutigkeit nur die halbe Lektion offenbart und indem er sich "zwischen Trainer und Messias" nicht habe entscheiden können, sein Verstanden-werden erschwert.
Was bleibt nach diesem Verständnis von Wittgenstein, sind sein Bemühen durch die Sprachspieltheorie auf die „mikro-asketischen Module“10, derer wir uns alltäglich bedienen, aufmerksam zu machen und mit diesem Bewusstsein für Grammatik eine Läuterung ihres Gebrauchs einzuleiten. Aus einem unbewussten Gebrauch von Sprache und Leben sollen sich durch diese Analyse wenige herauskristallisieren, die in die Ordensregel - Kultur übernommen werden können. „Sprachspiel ist alles, der lebende Kristall und die Schweinerei, es kommt auf die Nuancen an.“11 Der Übende muss sich der Übung als Übung bewusst werden um seine Selbstveränderung aktiv zu lenken.

Anmerkungen:
1 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), S. 208
2 Ebd.
3 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994) S. 149
4 Paul Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen (Wien/München: Oldenbourg, 1970) S. 32
5 Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien (München: Pieper, 1984) S. 316
6 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), S. 212
7 Ebd., S. 216
8 Ebd., S. 221
9 Ebd., S. 223
10 Ebd., S. 228
11 Ebd., S. 230

DISKUSSION:

Lob




Überforderung macht den Meister
Wie sich der Mensch gegen Krisen wappnet: Peter Sloterdijks fulminanter Mammut-Essay "Du musst dein Leben ändern".

Bild: Marmorne Nachbildung eines vorchristlichen Torso im Louvre, wie er Rainer Maria Rilke zu seinem Gedicht »Archaischer Torso Apollos« inspiriert haben könnte. Es endet mit den Worten: »Du musst dein Leben ändern!«.
Von Meike Feßmann (2.4.2009
Wer die 700 Seiten dieses großen philosophischen Werks hinter sich hat, der kann nicht anders als staunen. Über Berg und Tal, in elastischen Sprüngen quer durch die Zeiten und Kulturen, hat man eine Denkbewegung nachvollzogen, deren Ideenreichtum wie ein Attraktor wirkt, auch wenn man gelegentlich in einen Steinbruch begrifflicher und historischer Ableitungen steigen muss. Peter Sloterdijk gilt nicht umsonst als der Tausendsassa unter den Philosophen. Das bescheiden als „Essay“ angekündigte Mammutwerk, von dem man munkelte, es handle von der Wiederkehr der Religion und deren Kritik, ist weit mehr als das.

Unter dem berühmten, Rilke entlehnten Appell „Du musst dein Leben ändern“ gelingt Sloterdijk die erste ernstzunehmende philosophische Auseinandersetzung mit der beginnenden globalen Krise und der Herausforderung, die sie an den Menschen – und man muss wohl bei allem Argwohn gegen den Großbegriff sagen: an die Menschheit – stellt. Dass man diesem Buch anmerkt, dass sein Autor mitten im Schreiben, wahrscheinlich fast in der Zielgeraden, Strategie und Stoßrichtung geändert hat, ist kein Nachteil, im Gegenteil. Seine verblüffende Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft hat damit zu tun, dass Sloterdijk mit dem Appell, den er dem Leser nahe bringt, selbst ernst macht. Wer soll die globale Krise deuten, mag er sich gefragt haben, wenn nicht einer, der behaupten darf, mit seiner „Sphären“-Trilogie am tiefsten über das Phänomen der Globalisierung nachgedacht zu haben.

„Du musst dein Leben ändern!“ ist ein ambivalenter Imperativ. Denn das Versprechen auf ein besseres Leben, das er implizit enthält, ist verbunden mit einer Anstrengung. Wer sich von diesem Imperativ ansprechen lässt, steckt in der Klemme oder gar in einer Krise. Im Kleinen hören wir diese Aufforderung ständig: vom Arzt, der uns nahe legt, unsere Gewohnheiten zu ändern, um länger zu leben, von Fitness-Gurus, die behaupten, man könne mit ihrer Hilfe jung bleiben, von der Kosmetikindustrie, die uns Schönheit in Aussicht stellt, von Coaches, die uns beruflichen Erfolg und steigende Lebensqualität versprechen – und nicht zuletzt von den alten Religionen und neuen Heilslehren, die sich um unsere Seele kümmern und unsere Angst vor dem Tod in Schach halten. Es gehört zu den klugen Kniffen dieses Buches, dass Sloterdijk diese Appelle nicht verächtlich macht, sondern für sein eigenes Projekt zu nutzen versteht.

Was er im ersten Band der „Sphären“ unter dem Stichwort „Blasen“ (1998) als „die Idee der konstitutiven Resonanz“ vorgestellt hat, nämlich den frappierend schlichten Gedanken, dass der Mensch gerade nicht allein in die Welt geworfen ist, wie man spätestens seit Heidegger annahm, sondern von Anfang an mindestens in einem Dual existiert (das zunächst mit der Mutter besetzt ist), wird hier gewissermaßen eingeklammert.

„Du musst dein Leben ändern“ handelt von den Kräften, mit denen Menschen sich selbst formen. Die Fähigkeit und Bereitschaft dazu hält Sloterdijk für eine Tugend. Es ist seine „Vertikalspannung“, die einen Menschen über sich hinauswachsen lässt, die ihn zur Leistung anspornt und zu mehr als bloßem Existieren. Sie ist auch das Einfallstor für jede Form der Transzendenz, die Voraussetzung für die Möglichkeit der Religion.

Über einen Zeitraum von rund 3000 Jahren untersucht Sloterdijk die Ausprägungen dieser Spannung, von der Antike griechischer und römischer Prägung, vom Buddhismus und Hinduismus über die Gründungszeit der monotheistischen Religionen bis hin zur Neuzeit und schließlich zur Moderne. Mit einem geschickten Dreh nennt er diese Formungskräfte „Anthropotechniken“. Er begreift den Menschen als ein Wesen, das zum Üben verdammt ist, und das mittels dieses Übens permanent auf sich einwirkt.

Der Begriff der „Anthropotechniken“ umfasst sowohl somatische als auch spirituelle Methoden, mit deren Hilfe sich Menschen gegen Bedrohungen immunisieren. Neben dem, was wir als biologisches Immunsystem zu begreifen gelernt haben, ein drastischer Einschnitt im Selbstbild des Menschen, lässt sich das Verhältnis zur Welt insgesamt als ein „immunitäres“ auffassen. Der Mensch stählt nicht nur seinen Körper gegen die Bedrohung von Alter und Krankheit, er entwickelt auch „symbolische Immunsysteme und rituelle Hüllen“.

Seine größte Angst ist zweifellos die vor seiner Endlichkeit. In dieser Hinsicht ist die Religion nichts anderes als eine Technik, mit dem Tod umzugehen. Die starke Ausgangsthese des Buches lautet, „dass eine Rückkehr zur Religion ebenso wenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion – aus dem einfachen Grund, weil es keine ,Religion’ und keine ,Religionen’ gibt, sondern nur missverstandene spirituelle Übungssysteme, ob diese nun in Kollektiven (...) praktiziert werden oder in personalisierten Ausführungen – im Wechselspiel mit dem ,eigenen Gott’, bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern.“ Dass Sloterdijk die Generierbarkeit von Religionen ausgerechnet am Beispiel von Scientology darstellt, ist so blasphemisch wie plausibel.

Mit den technischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts entstehen Verhältnisse, die dazu zwingen, Menschsein in Abgrenzung zur Maschine neu zu definieren. Es ist der Beginn des anthropologischen Denkens und das Ende eines Zeitalters, in dem die früheren Lehrmeister noch ernsthaft zur Lösung akuter Probleme beitragen konnten. Sloterdijks neues Buch kann auch als Korrektur der Missverständnisse gelesen werden, die sich aus seiner Rede „Regeln für den Menschenpark“ (1997) ergaben.

Die argumentative Stoßrichtung lässt sich leicht auf den Punkt bringen. Es ist der Unterschied zwischen dem Imperativ „Du musst das Leben ändern!“ und dem völlig anders gearteten „Du musst dein Leben ändern!“, der oft eine Form des Selbst-Appells ist und sich nur an einen Einzelnen richtet. Vor allem ist er nicht biologistisch. Neben einem radikal umgedeuteten Wittgenstein unterzieht Sloterdijk vor allem Nietzsche und den sehr frühen und späten Foucault einer Neulektüre.

Nietzsche ist für ihn der einzige Philosoph, der die „Vertikalspannung“ des Menschen, seine Bereitschaft nach Höherem und Unmöglichem zu streben, auch nach dem Ende der Metaphysik und dem Tod Gottes ins Zentrum seines Denkens gestellt hat. Von ihm übernimmt er die Transformation der Metaphysik in eine „Allgemeine Immunologie“. In Foucault wiederum erkennt er den Gewährsmann, dass sich die antiken Askesen in eine moderne Form der „Sorge um sich“ übersetzen lassen. Wie man dem Dionysiker „einen Stoiker einpflanzt“, wie man also Leidenschaften pflegen kann, indem man sie einem Regelwerk unterwirft, das kann man wohl nirgendwo so genau erkunden wie in Foucaults posthum edierten Schriften zur Lebenskunst. Akrobatik, Artistik, Askese sind die Begriffe, die immer wieder fallen und ergänzt werden durch Künstlertum und Trainingswissenschaft.

All dies sind Praktiken im Zustand der Absonderung: Ein Individuum beschäftigt sich mit sich selbst. Sloterdijk plädiert für eine Rehabilitierung des „Egoismus“ und zieht damit die Lehre aus den gescheiterten Kollektiv-Phantasmen des 20. Jahrhunderts. Wer die Welt ändern will, statt bei sich selbst anzufangen, läuft Gefahr, im Namen einer höheren Idee zum Massenmord aufzurufen. Nach den Erfahrungen des Stalinismus und Faschismus ist dieser Weg verbaut. Dabei könnte man es bewenden lassen. Doch die Bedrohung des Planeten ist für den Globalisierungstheoretiker Sloterdijk eine Herausforderung, die er nicht ignorieren kann.

In der globalen Krise erkennt er die „einzige Autorität“, die heute sagen darf: „Du musst dein Leben ändern!“ Zustimmend zitiert er Hans Jonas, der Kants kategorischen Imperativ in einen „ökologischen Imperativ“ umformuliert hat: „Handle so, dass die Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Dass dies eine Überforderung ist, gibt Sloterdijk unumwunden zu. Kein Wunder, schließlich hat er 700 Seiten lang für eine Ethik des Sichforderns plädiert, die auch vor Überforderung nicht zurückschreckt.

Ihre erste Bewährungsprobe kann sie nun gleich am größten Beispiel geben. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit lässt sich Immunität nicht mehr als Vorteil des Eigenen gegenüber dem Fremden vorstellen. Tatsächlich müsste es für die Mitglieder der Weltgesellschaft um so etwas wie um eine „Ko-Immunitätsstruktur“ gehen. Bis sie gefunden und entwickelt ist, kann sich jeder Einzelne darin üben, „den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer Unwahrscheinlichkeiten“ auszuhalten. Peter Sloterdijks neuester Geniestreich gibt dafür einen exquisiten Leitfaden ab.

Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 714 Seiten, 24,80 €.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 02.04.2009)