Montag, Juli 01, 2019

Hilde DOMIN - Lebenskontext ihrer Lyrik (Teil I)

Wir setzten den Fuß in die Luft / und sie trug
Ausstellung Marianne Hagemann 12.6. Vortrag PD V.M. ROTH
HILDE DOMIN *1909 Köln – 1940 Santo Domingo- 1954 -2006 in Europa: Spanien und Heidelberg


HILDE – (mit wechselnden Nachnamen: vor 110 Jahren in Köln geborene Löwenstein, verheiratete Palm (Rom), Dichtername DOMIN "Ich nannte mich/ ich selber rief mich/ mit dem Namen einer Insel" nach dem Exil in der DOMINi-kanischen Republik) ist 2006 in Heidelberg beerdigt worden. Auf der Grabplatte die Inschrift: Wir setzten den Fuß in die Luft / und sie trug
Dies ist eine Abwandlung eines Zwischentitels im ersten Gedichtband Nur eine Rose als Stütze (1959): Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug
Hier höre ich DENNOCH mit.
Dieses Mitzuhörende auszusprechen nimmt einerseits Bezug auf die Biografie. Marianne Hagemann gab mir diesen Band von Marion Tauschwitz. Ich kann ihn weiterempfehlen. Der Wechsel vom „Ich“ zum „Wir“ kann auf verschiedene Weisen gedeutet werden.

Mitzuhören ist aber auch der poetologische Oberton. Da ist die interne Spannung zwischen Den-Fuß-in-die-Luft-setzen (ein Bild für kreative, geistige Tätigkeit überhaupt?) und dem überraschenden Und-sie (die Kunst?) -trug. Vom Gedicht in der Lebensmitte zum Grabspruch wird ein Bogen geschlagen. Und es besteht eine Beziehung auch zum für Marianne Hagemanns Bilder zentralen, zweiten Stichwort
L O S G E L Ö S T
Doch zunächst
NUR EINE ROSE ALS STÜTZE
Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind

Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

Buchbesprechung dieses Gedichtbandes durch Walter Jens (Tübingen) in der ZEIT vom 27. November 1959: „Man könne Vertrauen zu ihrer Sprache gewinnen, die >schwebendleicht wie eine Rose (ist) und die geheimste Zuflucht der … über Länder und Meere Gejagten< (Tauschwitz 351). Ein Freund aus Hilde Löwensteins Berliner Studienzeit schrieb er genieße diese Gedichte >in kleinen Schlucken wie kostbaren alten Wein< (Tauschwitz 352).
Der zweite Gedichtband Rückkehr der Schiffe erschien 3 Jahre später (1962). Darin steht das kurze Gedicht
LOSGELÖST
Losgelöst
treibt ein Wort

auf dem Wasser der Zeit
und dreht sich
und wird getragen
oder geht unter.

Du hast mich lange vergessen.
Ich erinnere schon niemand,
dich nicht
und niemand. /- Domin überhöht nochmal:
Dies Wort von mir zu dir,
dies treibende Blatt
es könnte von jedem
Baum / auf das Wasser gefallen sein.
  1. In der Beschreibung einer Landschaft nördlich von Madrid (Sierra de Guadarrama) , in die sie floh, hatte Hilde Domin die >trostlos großartige Steinwüste Kastiliens< so charakterisiert- „es ist alles schon weggelassen, alles auf die knappste Formel gebracht“ „farblich, menschlich, sachlich“ und die einfühlsame Biografin fügt hinzu: „Die Landschaft schien der Struktur ihrer Gedichte zu entsprechen.“ (Tauschwitz 302) - Gilt Entsprechendes für die Malerei von der wir hier umgeben sind? Will sie im hier umrissenen Sinn LOS-GELÖST und zugleich konzentriert sein?
  2. Der zitierte Text von Domin ist eine Stelle in einem Brief vom Herbst 1955. Davor steht, was sich auch verstehen lässt als Zuspruch für die Dichterin, die selber am Anfang steht: „flaches Gelb und Grau, - (von der Sonne) - verbrannte Wiesen, ein in den Staub gekauertes Haus … am Himmelsrand... ein stechend schwarzer Fleck: Mensch oder Tier. Das Ganze eine ideale ...(A)ufgabe für einen modernen Maler“ . (Domin schrieb: Anfängeraufgabe) Mit der sengenden Hitze des Südens kommt zur LUFT und dem WASSER das FEUER hinzu.
  3. Fehlt noch ERDE. Die findet sich im Gedicht WORTE
Worte sind reife Granatäpfel
sie fallen zur Erde
und öffnen sich.
Es wird alles Innere nach außen gekehrt,
die Frucht stellt ihr Geheimnis bloß
und zeigt ihren Samen,
ein neues Geheimnis.

Der Vortragende überreicht der Malerin einen punischen Apfel



In Domins Frankfurter Poetik-Vorlesung WS 87/88 fand ich diese Passage: „WAS AUTOR UND LESER VERBINDET:
Ganz wie der Autor etwas Zwiefaches tut, wenn sie schreibt (oder malt), so auch der Leser (der Betrachter): indem sie oder er kritisch ist und zugleich … den Wahrheitsanspruch ernst nimmt... Die Zeilen führen den Atem des Lesers, sind Atem-Einheiten. Zugleich aber auch optische Einheiten. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Erregung auf der einen Seite und Ratio auf der andern... Wenn also ein Gedicht vorgelesen wird, so interpretiert die Stimme den Text...Soweit dies Gedicht den Zuhörer überhaupt bewegt, wird sie oder er auf dem Vollzug der Stimme mitreisen“ (69)
Darf ich noch ein weiteres Mal zu dieser Reise einladen?
(auch Hilde Domin las vorgetragene Gedichte gern 2 mal)
DANACH LEBHAFTE DISKUSSION.
Zum Schluss ein Auszug aus Thomas Felix Mastronardi „Drum prüfe“, Philosophische Praxis 4, VIEL GLÜCK!, V.M. Roth (Hg.), Konstanz 2012
Aus einer philosophischen Trauungsrede:
In einer guten Ehe sollte man sich gegenseitig, jeden Abend, … jede Nacht, alles verzeihen, den Streit vergeben und wenn das nicht möglich ist, dann sollten sie sich doch mindestens jede Woche alles verzeihen!!“

setzten den Fuß in die Luft ... Hilde Domin und Malerei von Marianne Hagemann

DOMIN 2 für 30. JUNI 2019 FINISSAGE
V.M. Roth
Am 12.6. habe ich zum Lebenskontext von HILDE DOMINS Gedichten hier in der Ausstellung
LOS G E L Ö S T von Marianne Hagemann - mich auf die erste Lebenshälfte konzentriert und dabei auch auf das Verhältnis zu Erwin Walter Palm, der gemeinsamen Vertreibung aus dem Land der Muttersprache und im weiteren Verlauf  dann der einsam machende Verlust des >Hauses der Liebe< - eigene Gedichte ab 1949. Ich habe  vorweg aber auch aufmerksam darauf gemacht, dass Domin in der zweiten Lebenshälfte einen Bogen schlug vom ICH (dem „lyrischen Ich“ des Zwischentitels aus NUR EINE ROSE ALS STÜTZE - erster Lyrikband 1959) zum erlebten WIR mit dem 1988 verstorbenen Mann. Das ist ja die nächstliegende Bedeutung, wenn aus „Ich setzte den Fuß in die Luft/ und sie trug“ der Grabspruch (für das Doppelgrab) „Wir setzten …“ wird. Vorab: Daten SG 307
Hilde Domin wird sich nie ganz von ihrem Mann trennen und ihn um 18 Jahre überleben und ihm noch manches Gedicht widmen.
Ich habe mich bezogen auf die Luft als ein Bild für kreatives Leben. Dies gilt für Beide, Palm und Domin. Künstlerische Tätigkeit (KUNSTEN) ist ja insofern "luftig" als sie nicht jene „Festigkeit“ hat wie „handfeste“ Alltagstätigkeiten – in (ich sage mal) „normalem Gewerbe“, aber auch Hausarbeit, Gartenarbeit, Tätigkeiten in Politik und Wissenschaft. Die von Marion Tauschwitz verfasste Hilde-Domin- Biografie gibt dem Thema des erlebten Unterschieds zwischen Mann und Frau im 20. Jhdt. breiten Raum. Im Anschluss an den Vortrag vom 12.6. entstand der Plan zur heutigen Fortsetzung am Ausstellungsende.
Ich bin dann in die Universitätsbibliothek Konstanz gegangen und habe dort neben Tauschwitz ein umfangreiches Werk von Stephanie Lehr-Rosenberg gefunden mit dem Motto: „ >Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug<“ und dem Titel: „Umgang mit Fremde und Heimat in Gedichten Hilde Domins.“ Würzburg 2003
Die Autorin Stephanie L-R hat sich mit dieser Arbeit über Hilde Domin habilitiert an der Fakultät für katholische Theologie der Uni Würzburg. Sie gibt als Einsatzgebiet die Erwachsenenbildung an (Das geschieht hier ja auch)
Und sie sagt von sich selber: „Dass die Luft, auf die ich (Stephanie) meinen Fuß setzte, trug, dafür sind an erster Stelle die Gedichte selbst verantwortlich.“ (S.9)
Diese Autorin bringt in der Einleitung auch zur Sprache, dass sie einen 4jährigen Aufenthalt von 1983-1987 in Zaire / Kongo, Zentralafrika hatte. In dieser Zeit versuchte sie sich in eine fremde Kultur einzudenken/einzufühlen. Sie stellte sich dabei auch Fragen zu der ihr vertrauten, mitgebrachten Wertsetzung. Zurückgekehrt nach D stellt Stephanie L.R. dann fest, dass die Frage nach dem Umgang mit Fremde und Heimat angesichts der „heutigen“ (1987ff) – doch das gilt auch Jahrzehnte später noch – immer wieder aufkeimenden Fremdenfeindlichkeit- ein aktuelles Thema von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz und bei passenden Gelegenheiten angemessen zu behandeln ist. Bei dafür Aufgeschlossenen mag auch (wie hier) die Beschäftigung mit > in-Malerei-gefallenen-Gedichten< taugen:
WORTE (1987)
Worte sind reife Granatäpfel,
sie fallen zur Erde
und öffnen sich.
Es wird alles Innere nach außen gekehrt …
Und ich denke, das gilt auch für in Malerei >eingewebte< Splitter von manchen Gedichten DOMINs in Bildern dieser Ausstellung.

Einige der Gründe für die heutige Fremdenfeindlichkeit lägen in den Forderungen einer pluralen Gesellschaft an die einzelnen Menschen. Überlieferte Wertsysteme können nicht mehr fraglos übernommen werden.
1. Die Spannung zwischen Fremde und Heimat gehört zu den Grunderfahrungen menschlicher Existenz. 2. Die Autorin L.-R. zitiert zur gegenwärtigen Gesellschaftslage Ulrich Becks RISIKOGESELLSCHAFT: „Alles Leid-… (von) Menschen Menschen zugeführt … kannte bisher die Kategorie der >Anderen< … einerseits, andererseits die eigenen vier Wände“ hinter die frau/man sich zurückziehen kann. (21) „Dies alles gibt es weiter und gibt es seit Tschernobyl / 1986 nicht mehr“ so Beck 1986. Dies sei das „Ende der Anderen“, das Ende unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglichkeiten. Atombomben und Atomunfälle können mondiale Auswirkungen haben wie die (bescheiden) „Klimawandel“ genannte >zivile< Erdklima-Veränderungstendenz, eine vorausgesagte Katastrophe für Menschen in nicht mehr menschenfreundlicher Natur (~ 2050 ? ). Diese Ausweitung des Problems der Vertreibung wirft für uns auch die Frage auf: ist denn Exilliteratur wie Gedichte von Hilde Domin noch zeitgemäß? Hat sie in einer Zeit globaler Bedrohung (ohne Exil- Möglichkeit) noch etwas zu sagen?



Dazu lese ich nun das Gedicht
GRAUE ZEITEN

Es muss aufgehoben werden
als komme es aus grauen Zeiten
Menschen wie wir wir unter ihnen
durften nicht bleiben
und konnten nicht gehen

Menschen wie wir wir unter ihnen
grüßten unsere Freunde nicht
und wurden nicht gegrüßt

Menschen wie wir wir unter ihnen
standen an fremden Küsten
um Verzeihung bittend
dass es uns gab

Menschen wie wir wir unter ihnen
wurden bewahrt
Menschen wie wir wir unter ihnen
Menschen wie ihr ihr unter ihnen
Jeder kann ausgezogen werden
und nackt gemacht

Die nackten Menschenpuppen
nackter als Tierleiber
unter den Kleidern
der Leib der Opfer

Ausgezogen die noch morgens
die Schalen um sich haben
weiße Körper

Glück hatte, wer nur gestoßen wurde
von Pol zu Pol

Die grauen Zeiten
ich spreche von ihnen
als ich jünger war
als ihr jetzt

Und wenn es beides wäre? – Das Ende des Gedichts, als Hilde jünger war als die meisten von uns jetzt, spricht die historisch konkrete Zeit im zwanzigsten Jahrhundert an. Und diese Zeit ist vorbei. (Was nicht heißt, sie könnte nicht wiederkommen. Mit Brecht: der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch) Aber es gibt auch andere Passagen, wie die: „Glück hatte, wer nur gestoßen wurde von Pol zu Pol“. Eine globale Klimakatastrophe wird vielleicht gründlicher sein.
Und dann kann es sehr wohl heißen:
Menschen wie wir
durften nicht bleiben
konnten nicht
(woandershin) gehn“

Dies ist, denke ich, eine sich durchziehende Charakteristik Dominscher Gedichte, dass sie sowohl eine biographisch konkrete Interpretation ermöglichen als auch eine davon losgelöste verallgemeinerte Aussage, immer wieder neu zu fassen, nahelegen.
Dies zu entdecken, braucht seine Zeit!

Im Übrigen, wie die Autorin Lehr-Rosenberg „rezeptionsästhetisch“ bemerkt: in dieser Art von >Doppelinterpretation< liegt auch die Möglichkeit je eigener Interpretation durch die Leser/Hörer als Mitautor*en der Bedeutung, damit Mit-Schöpfer*innen des Gedichtes im Wirkungsprozess, einem dialogischen Sprachakt.

Wieder Becks RISIKOESELLSCHAFT zitierend fügt die Autorin an (25):
mit dem Ausmaß der Gefahr wachse auch die Wahrscheinlichkeit ihrer Leugnung.
Ein geradezu prophetisches Wort!
(Wiederaufnahme / „Fortsetzung“ von Hölderlins „Doch in Gefahr, zeigt sich das Rettende auch“) – Nicht immer!

Jetzt mache ich einen Sprung hinein in den Beginn des Gedichts

ÜBERFAHRT

Ein Kind
das macht die Ferne
es hat lockeres weißes Haar
es trägt ein schwarzes Kleid
es ist kein Kind
es steht in einem Boot
mir abgewandt
es hebt die Arme –
nicht zu mir –
auf der anderen Seite ist Land
(Der Baum blüht trotzdem, S. 40)

SPRECHER PAUSE
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Gedichtband ICH WILL DICH (1970) → Freiheit
ÄLTER WERDEN

Die Sehnsucht
nach Gerechtigkeit
nimmt nicht ab
Aber die Hoffnung

Die Sehnsucht
nach Frieden
nicht
Aber die Hoffnung

Die Sehnsucht
nach Sonne
nicht
täglich kann das Licht kommen
durchkommen


Aber die Liebe
der Tode und Auferstehungen fähig
wie wir selbst
und wie wir
der Schonung bedürftig

Hand in Hand mit der Sprache
bis zuletzt


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GESAMMELTE GEDICHTE (1987)

HECKENROSE

Mir träumte ich sei eine Heckenrose
mit blassen Blättern
über dem engen Kelch
Du gingst vorbei.
Da war ich eine Hagebutte,
bunt und voll Samen.

(DAS ist nur der Anfang – SG 217)

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SG 235 FRAGMENT

Ein jeder geht eingehüllt
in den Traum von sich selber.
In manchen Träumen ist Raum
für den Zweiten
wie in einem Doppelbett.
Fast in allen.

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ZETTEL in Marion Tschirwitz 2015
168
212f
222 HD PHILO REINER WIEHL
226 ab 1949
227 Muttersehnen
Schiffe
241 aus selbem Brunnen
297 gemeinsam
395 IN DEN AUGEN DER ANDEREN 


                                            letzte Hand anlegend in der Galerie Gunzoburg Überlingen Vortrag Ausstellungsende

30. Juni 2019  Volkbert M. Roth, SinnPraxis Bodensee