Dienstag, Dezember 02, 2014

Marke Heidegger


Philosoph: Die Marke Heidegger

Wie die Familie des Philosophen jahrzehntelang versuchte, das Image des umstrittenen Denkers zu kontrollieren und kritische Stimmen klein zu halten. von Eggert Blum

DIE ZEIT Nº 47/2014           116 Kommentare


...noch nach 1945 beklagte er eine jüdische "Rachsucht", deren Ziel es sei, die "Deutschen geistig und geschichtlich auszulöschen". Nicht einmal erwähnt, geschweige denn bedauert werden die Opfer des Holocausts.

Doch warum erfuhr die Öffentlichkeit erst so spät von Heideggers Judenfeindschaft? Und wenn der Antisemitismus seine Philosophie viel tiefer prägte als bisher gedacht: Sollten sich davon nicht Spuren in der Gesamtausgabe finden lassen, die seit 1975 im Verlag Vittorio Klostermann erscheint?

Es gibt Spuren, aber sie wurden von den Erben - /ja schon 1950 in Holzwege von Martin Heidegger selbst*/ - mit Eifer verwischt. Die Erben üben eine strikte Kontrolle über die Gesamtausgabe aus, sie beanspruchen Deutungshoheit über das Heidegger-Bild in der Öffentlichkeit und versuchen, kritische Stimmen klein zu halten.

Wie diese Kontrolle funktioniert, hat zum Beispiel Peter Trawny erlebt, heute Professor in Wuppertal und Herausgeber der Schwarzen Hefte. 1995 betrauten ihn Professor Friedrich-Wilhelm von Herrmann, letzter Privatassistent Martin Heideggers und "leitender Herausgeber" der Gesamtausgabe, sowie Hermann Heidegger, Sohn Martins und Nachlassverwalter, mit der Herausgabe von Band 69 – der um 1938 geschriebenen Geschichte des Seyns.

Trawny machte eine erschreckende Entdeckung. Er stieß in der Handschrift auf eine Passage, in der Heidegger fragt, "worin die eigentümliche Vorbestimmung der Judenschaft für das planetarische Verbrechertum begründet ist". Soll der skandalträchtige Satz in die Gesamtausgabe aufgenommen werden? Er habe sehr dafür plädiert, sagt Trawny heute, sich aber damals, als 31-Jähriger ohne sichere akademische Stellung, gegen von Herrmann und Hermann Heidegger nicht durchsetzen können – der Satz wird unterschlagen. Laut Trawny mit der Begründung, dass die Gesamtausgabe eine Ausgabe "letzter Hand" sei, die den "Denkweg" des Meisters als abgeschlossenen Text wie aus einem Guss präsentiere – und keine historisch-kritische Ausgabe, die Änderungen des Autors kenntlich und so die Textgeschichte überprüfbar mache.


Nun fehlt Heideggers Überlegung über die "Vorbestimmung der Judenschaft zum planetarischen Verbrechertum" auch schon in einer Abschrift des Manuskripts, die sein Bruder Fritz später angefertigt hat. Martin Heidegger prüfte die Abschriften des Bruders immer nach, er dürfte die Auslassung mithin gebilligt haben. Hat also der Meister selbst bereits sein Bild retuschiert und gefälscht?" Wann erfolgte die Abschrift? Wann die Durchsicht?
Eggert Blum verweist dann in diesem Zusammenhang auch auf die folgende Anwendung des Prinzips der >Ausgabe letzter Hand<: p="">"Sidonie Kellerer ist es gelungen, eine solche Retusche an einem für die Nachkriegsrezeption Heideggers entscheidenden Punkt nachzuweisen. 1950 erschien im viel diskutierten Sammelband Holzwege Heideggers Vortrag über die Zeit des Weltbildes, den er 1938 in Freiburg gehalten hatte. Heidegger, bis 1945 Mitglied der NSDAP und darum bemüht, sich neu zu inszenieren, versucht darin, sein Publikum davon zu überzeugen, dass er schon zwölf Jahre zuvor die nationalsozialistische Weltanschauung öffentlich kritisiert und vor den Gefahren der modernen Technik gewarnt habe.
Sidonie Kellerer bekam Zweifel an dieser Version und untersuchte 2010 im Literaturarchiv Marbach, wo Heideggers Nachlass liegt, seine Manuskripte. Fassung eins, Fassung zwei, weitere Abschriften. Sie findet schließlich heraus, welche Version 1938 tatsächlich vorgetragen wurde. Das Ergebnis ihrer philologisch-philosophischen Kärrnerarbeit: Der 1950 in den Holzwegen veröffentlichte Text weiche in wichtigen Passagen vom ursprünglich gehaltenen Vortrag ab. Heidegger, so Kellerer, fügte hinzu, strich weg, formulierte subtil um – und verschwieg all dies dem Leser."
 - mit dem Recht einer >Ausgabe letzter Hand<. Aus einem Text von 1938, der in einer Traditionslinie mit der Rektoratsrede von 1933 steht, wird ein Beleg der Kehre.

Wann wird es historisch-kritische Heidegger-Ausgaben geben?

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*S. Kellerer, “Rewording the Past. The Post-war Publication of a 1938 Lecture by Martin Heidegger.” In: Modern Intellectual History  11, 3 (2014): 575–602 - hier ist dokumentiert, wie Martin Heidegger im Sammelband Holzwege 1950 den Vortragstext Die Zeit des Weltbildes von 1938 (neutral ausgedrückt) "reformuliert"

--- " Der Skandal um den bereinigten Nachlass " FR 5.12.2014 SÜDKURIER 281  KULTUR 13
(leicht gekürzter Reprint des ZEIT-Artikels)  Auszug aus S-2-:
Zensur, Intransparenz, die Missachtung wissenschaftlicher Standards: Für den 84-jährigen Theodore Kisiel ist das "Familienunternehmen Gesamtausgabe" ein "internationaler wissenschaftlicher Skandal". Marion Heinz, Philosophieprofessorin Uni Siegen, sekundiert ihm: Forscher, die sich an die Editionsvorgaben der Familie hielten, gerieten in Widerspruch zu den Prinzipien von Kritik und Öffentlichkeit. Eine heimliche Allianz aus Familie und öffentlich bezahlter Forschung habe sich gebildet; sie diene nicht der Aufklärung, sondern führe zu Intransparenz und Verschleierung.

Tatsächlich haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Literaturarchiv Marbach jahrzehntelang beträchtliche öffentliche Mittel für Ankauf, Aufbewahrung und Erschließung des Heidegger-Nachlasses ausgegeben – doch es sind immer die Erben, die darüber entscheiden, wer Zugang zu den Manuskripten erhält. Deshalb fordert der Freiburger Philosoph Rainer Marten, der selbst aus Heideggers Schülerkreis stammt, die Erben auf, sie sollten endlich begreifen, dass Heideggers Werk der Welt und nicht der Familie gehöre. Ob Kisiel, Heinz oder Marten: Ein wachsender Chor von Kritikern fordert, was der französische Philosoph Emmanuel Faye schon 2006 verlangte, nämlich Heideggers gesamten Nachlass für die Forschung zu öffnen und damit den Weg für eine historisch-kritische Edition frei zu machen.

Die Möglichkeit dazu hätte es längst gegeben. In den Jahren vor Heideggers Tod wollte der Pfullinger Verleger Günther Neske zusammen mit den Verlagen Niemeyer und Klostermann die Kräfte für eine historisch-kritische Ausgabe in einem Konsortium bündeln, unterstützt von einer vom Land Baden-Württemberg finanzierten Forschungsstelle. Als Gegenleistung hätte die Familie Heidegger auf einen Teil der Publikationserlöse verzichten müssen.
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Prof. Marion Heinz und Dr. Sidonie Heinz organisieren im April 2015 eine Tagung an der Universität Siegen zu den Schwarzen Heften

Montag, Dezember 01, 2014

Abenteuer

      

The Adventure of SEARCHING for Orientation in Doing Philosophy
           übersetzt von Mike Roth

Philosophieren als Abenteuer der Orientierung        
Ran Lahav interviewt Detlef Staude 

Detlef Staude ist ein philosophischer Praktiker, der in Bern / Schweiz lebt und seine Philosophische Praxis philocom führt. Er ist Koordinator des Netzwerkes philopraxis.ch , macht Gesprächsgruppen, Seminare, Workshops,  Vorträge,  Philosophische Cafés (mit  Mike Roth u.a.)  sowie Philosophische Beratungen.

Er bemüht sich die 14. ICPP in der Schweiz stattfinden zu lassen. (Stand: Dezember 2014)

Hallo, Detlef!

             Hallo, Ran!

Ran: Du bist ein philosophischer Praktiker hier in der Schweiz und in Deiner philosophischen Praxis gibt es eine ganze Reihe von Aktivitäten. Du bist auch der Koordinator der Schweizer Dachorganisation für Philosophische Praxis.  Detlef: Ja
Ran: Du hast mir gesagt, dass für Dich der Prozess philosophischer Praxis sich als ein Abenteuer darstellt. Es ist das Abenteuer des Verstehens. Erkläre doch, was das heißt!
Detlef: Da beginne ich mit einem Beispiel. Wir sind in einem Seminar zur Ideengeschichte… Ran: Also in der Universität … Detlef: In der Volkshochschule in Bern. Da denken sich die Teilnehmenden hinein in diese “Ideen” und in die Weise, wie ich diese ihnen präsentiere. Sie beschäftigen sich mit der Lebenswelt der Menschen jener Zeit und mit den Begriffen, die sie gebildet haben. Dies wird nicht geschehen ohne eine “Inspiration”. Und die macht die gesamte Gedankenreise zu einem Abenteuer des Geistes. Das Abenteuer liegt im Philosophieren. Es bezieht sich auf unsere Geistesgeschichte, auf unsere eigene Kultur. So verwurzeln sie sich fester in dem, was sie sind,  sich aber noch nicht bewusst sind oder  bewusst waren.
Ran:  Also: Du meinst, das ist wie auf einer Reise, Abenteuerreise ins Reich der Ideen. Zu den Hintergründen unserer Kultur und Geschichte.
Detlef: Ja, das denke ich. Zur „Reise“ fällt mir ein weiteres Beispiel ein. Ich habe auch “Philosophische Reisen” angeboten. Da fuhren wir etwa in andere Länder. “Gedankenreise” geht aber auch als eine Veranstaltung mit mehreren PhilosophInnen. Wir waren da 5 Philosophinnen / Philosophen mit recht unterschiedlichen Weisen philosophischen Denkens. Ran: Aha, Ihr 5 geht auf die Reise …  Detlef:  Etwa zum Ort im Engadin, wo Friedrich Nietzsche manchen Sommer verbrachte, Sils Maria. Jede/r von uns präsentiert ihr/sein Denken zu einem alIen vorgegebenen gemeinsamen Thema. Die etwa 12 Teilnehmer im Kurs können da sehen, wie unterschiedlich die 5 Praktiker denken. Ran: Was geschieht dann im “Retreat”?
Detlef: Ja, das hat Züge von einem “Retreat”. Was passierte?
Es fand eine sehr inspirierte Diskussion statt. Inspirierend im Gespräch zwischen den Philosophen, zwischen Teilnehmern und  Philosophen und zwischen den Teilnehmenden untereinander.
Ran: Locals …Leute vom Ort?
Detlef: Leute, die zur Philosophischen Woche gekommen waren. Es war ein sehr inspirierendes Abenteuer. Ran: Und wie hat dies das Leben berührt? Philosophische Praxis will ja in Kontakt kommen mit dem Leben. Detlef: Ja, das ist nicht leicht zu bestimmen. Denn Philosophie berührt das Leben ja nicht direkt. Wir sind ja nicht im „Retreat“ um Probleme zu lösen. Wäre die Philosophin problemlösend tätig, würde sie auf alternatives Verhalten hin "coachen". Wir philosophieren um unsere Sicht zu erweitern. Philosophierende möchten zu einem tieferen Verständnis ihrer selbst kommen, einem angemesseneren Verstehen der Welt und der „Menschheit“, Verstehen der eigenen Kultur. Wenn jemand sich als Teil von etwas sieht, Teil einer Kultur, Teil der Menschheit, Teil der ganzen Welt – dann erscheinen die Lebensprobleme als kleiner. Manche lösen sich als Probleme auf und werden nun besser verstanden als Züge des Lebens. Sie waren schon Teil des Lebens in der ganzen Geschichte menschlicher Existenz. Ich denke, solches Philosophieren macht es  den Menschen leichter ihre Einstellungen zu ändern. Denn wenn die Sicht sich weitet, dann sehen wir:  dies hat ja mehr Bedeutung als das, worin ich bisher drin verwickelt war. Ran: Da gibt es nun eine größere Welt, die sich mir eröffnet…

Detlef: Ja, und darum spreche ich vom Abenteuer!
Worauf ich die Betonung legen möchte ist die besondere Art von Gesprächen, die „tief“ gehen können (bei Einigen, selten Allen). Zwischen einigen baut sich eine Verbindung auf. Sie nehmen nicht nur an dem Kurs teil und sind dann wieder weg.  Es gibt hier eine Verbindung, die nicht nur emotional verbindet. Emotionale Verbindung habe ich auch als Teilnehmer in anderen Kursen und in anderen Lebensbereichen erlebt: alle fühlen sich verbunden, doch das bleibt auf der emotionalen Ebene. Aber im gemenisamen Philosophieren kommt es auch zu einer anderen Verbindung: auf Gedankenebene und da hält die Verbindung länger an. Dies berührt eben Essentielles. Ran:  Was passierte durch diesen “Retreat”? Wie wirkte es sich aus auf Dich und auf die anderen, die TeilnehmerInnen? Detlef: Es brachte sie dazu Bestimmtes zu lesen, an Themen für sich selbst zu arbeiten, an weiteren Kursen teilzunehmen und auch sich zu treffen. Leute, die sich vorher nicht kannten, kamen anschließend wieder zusammen und treffen sich nun. Und für mich persönlich ergab sich die Inspiration, neue philosophische Gesprächsgruppen aufzubauen und in schon bestehenden neue Themen zu diskutieren. Ran:  Diese Idee, die Du uns nahelegst, die größere Welt der Ideen zu betrachten, den Kontext von Ideen, in denen wir leben … Du hast beschrieben, wie das funktionierte bei dieser besonderen Gelegenheit – gibt es noch Aktivitäten in anderem Format, wo Du demselben Ansatz folgst? Detlef:  Ja, für mich war das Format des Aufeinandertreffens verschiedener Philosophischer Praktiker immer von besonderer Wichtigkeit. Daraus ist übrigens auch das Netzwerk philopraxis.ch hervorgegangen. Und mehr oder weniger dieselbe Idee wirksam: wir kommen zusammen um miteinander zu philosophieren, wir wollen in Kontakt mit dem kommen, was  Jede/r von uns tut in philosophischer Praxis und die verschiedenen Weisen des Philosophierens in Erfahrung bringen. Das inspiriert uns bis heute. Wir bestehen nun 11 Jahre (eine recht lange Zeit).
 
Ran: …Vor unserem Interview hast Du von ORIENTIERUNG gesprochen … Detlef:  Ich denke Menschen haben ein OrientierungsLos*, sie brauchen Orientierung in ihrem Leben. Wir leben nicht „nur so“. Wir müssen ein (von uns) bestimmtes Leben führen. Drum müssen wir unserem Leben „Form“ geben. Daher suche ich Orientierung, in welcher Weise ich mein Leben formen will. Was gibt es auf dieser Welt? Nun gibt es ja viele Möglichkeiten diese Orientierung zu bekommen. Doch wenn man eine gründliche Orientierung sucht, kommt man auch sehr rasch zur Philosophie. Ich denke die wichtige Sache der Philosophischen Praxis ist, dass da Orientierung gesucht und gefunden werden kann. Nicht so, wie das durch Religion geschieht, nicht durch Konzepte, die nur mehr oder weniger bestimmt sind und interpretiert werden müssen. Sondern durch eine Pluralität von Ansätzen. Ich kann auswählen und sehen, was gut für mich und die Welt ist. Vielleicht forme ich meine eigenen Konzepte, meine eigene Richtung für mein Leben. Vielleicht kann ich  mit anderen Menschen  zusammen in Bewegung  kommen. Ich denke, Philosophie und insbesondere Philosophische Praxis hat auch die Bedeutung: „you got to move!“ – auf reflektierte Weise. Ran: In Verbindung mit dem, was Du über das Abenteuer gesagt hast – ist es möglich zu sagen, dass Philosophische Praxis ein Abenteuer ist, eine anregende Suche in der Welt der Ideen nach Orientierung? Detlef: Ja, das fasst es treffend!

 

 

*Siehe: Das OrientierungsLos. Philosophische Praxis unterwegs (2008) mit Beiträgen von Martina Bernasconi, Willi Fillinger, Thomas Gutknecht, Hans Haessig, Bernadette Hagenbuch, Imre Hofmann, Roland Neyerlin, Mike Roth, Detlef Staude, Dominique Zimmermann, Eva Zoller (Hartung-Gorre Verlag Konstanz) für Netzwerk philopraxis.ch