Philosoph: Die Marke Heidegger
Wie die
Familie des Philosophen jahrzehntelang versuchte, das Image des umstrittenen
Denkers zu kontrollieren und kritische Stimmen klein zu halten. von Eggert
Blum
DIE ZEIT Nº
47/2014 116 Kommentare
...noch nach 1945 beklagte er eine
jüdische "Rachsucht", deren Ziel es sei, die "Deutschen geistig
und geschichtlich auszulöschen". Nicht einmal erwähnt, geschweige denn
bedauert werden die Opfer des Holocausts.
Doch warum
erfuhr die Öffentlichkeit erst so spät von Heideggers Judenfeindschaft? Und
wenn der Antisemitismus seine Philosophie viel tiefer prägte als bisher
gedacht: Sollten sich davon nicht Spuren in der Gesamtausgabe finden lassen,
die seit 1975 im Verlag Vittorio
Klostermann erscheint?
Es gibt
Spuren, aber sie wurden von den Erben - /ja schon 1950 in Holzwege von Martin Heidegger selbst*/ - mit Eifer verwischt. Die Erben üben eine
strikte Kontrolle über die Gesamtausgabe aus, sie beanspruchen Deutungshoheit
über das Heidegger-Bild in der Öffentlichkeit und versuchen, kritische Stimmen
klein zu halten.
Wie diese
Kontrolle funktioniert, hat zum Beispiel Peter
Trawny erlebt, heute Professor in Wuppertal und Herausgeber der Schwarzen
Hefte. 1995 betrauten ihn Professor Friedrich-Wilhelm von Herrmann, letzter
Privatassistent Martin Heideggers und "leitender Herausgeber" der
Gesamtausgabe, sowie Hermann
Heidegger, Sohn Martins und Nachlassverwalter, mit der Herausgabe
von Band 69 – der um 1938 geschriebenen Geschichte des Seyns.
Trawny
machte eine erschreckende Entdeckung. Er stieß in der Handschrift auf eine
Passage, in der Heidegger fragt, "worin die eigentümliche Vorbestimmung
der Judenschaft für das planetarische Verbrechertum begründet ist". Soll
der skandalträchtige Satz in die Gesamtausgabe aufgenommen werden? Er habe sehr
dafür plädiert, sagt Trawny heute, sich aber damals, als 31-Jähriger ohne
sichere akademische Stellung, gegen von Herrmann und Hermann Heidegger nicht
durchsetzen können – der Satz wird unterschlagen. Laut Trawny mit der
Begründung, dass die Gesamtausgabe eine Ausgabe "letzter Hand" sei,
die den "Denkweg" des Meisters als abgeschlossenen Text wie aus einem
Guss präsentiere – und keine historisch-kritische Ausgabe, die Änderungen des
Autors kenntlich und so die Textgeschichte überprüfbar mache.
Nun fehlt
Heideggers Überlegung über die "Vorbestimmung der Judenschaft zum
planetarischen Verbrechertum" auch schon in einer Abschrift des
Manuskripts, die sein Bruder Fritz später angefertigt hat. Martin Heidegger
prüfte die Abschriften des Bruders immer nach, er dürfte die Auslassung mithin
gebilligt haben. Hat
also der Meister selbst bereits sein Bild retuschiert und gefälscht?" Wann erfolgte die Abschrift? Wann die Durchsicht?
Eggert Blum verweist dann in diesem Zusammenhang auch auf die folgende Anwendung des Prinzips der >Ausgabe letzter Hand<: p="">"Sidonie Kellerer ist es gelungen, eine solche Retusche an einem für die
Nachkriegsrezeption Heideggers entscheidenden Punkt nachzuweisen. 1950 erschien
im viel diskutierten Sammelband Holzwege Heideggers Vortrag über die Zeit
des Weltbildes, den er 1938 in Freiburg gehalten hatte. Heidegger, bis 1945
Mitglied der NSDAP und darum bemüht, sich neu zu inszenieren, versucht darin,
sein Publikum davon zu überzeugen, dass er schon zwölf Jahre zuvor die
nationalsozialistische Weltanschauung öffentlich kritisiert und vor den
Gefahren der modernen Technik gewarnt habe. Sidonie Kellerer bekam Zweifel an dieser Version und untersuchte 2010 im Literaturarchiv Marbach, wo Heideggers Nachlass liegt, seine Manuskripte. Fassung eins, Fassung zwei, weitere Abschriften. Sie findet schließlich heraus, welche Version 1938 tatsächlich vorgetragen wurde. Das Ergebnis ihrer philologisch-philosophischen Kärrnerarbeit: Der 1950 in den Holzwegen veröffentlichte Text weiche in wichtigen Passagen vom ursprünglich gehaltenen Vortrag ab. Heidegger, so Kellerer, fügte hinzu, strich weg, formulierte subtil um – und verschwieg all dies dem Leser."
- mit dem Recht einer >Ausgabe letzter Hand<. Aus einem Text von 1938, der in einer Traditionslinie mit der Rektoratsrede von 1933 steht, wird ein Beleg der Kehre.
Wann wird es historisch-kritische Heidegger-Ausgaben geben?
*S. Kellerer, “Rewording the Past. The Post-war Publication of a 1938 Lecture by Martin Heidegger.” In: Modern Intellectual History 11, 3 (2014): 575–602 - hier ist dokumentiert, wie Martin Heidegger im Sammelband Holzwege 1950 den Vortragstext Die Zeit des Weltbildes von 1938 (neutral ausgedrückt) "reformuliert"
--- " Der Skandal um den bereinigten Nachlass " FR 5.12.2014 SÜDKURIER 281 KULTUR 13
(leicht gekürzter Reprint des ZEIT-Artikels) Auszug aus S-2-:
Zensur, Intransparenz, die Missachtung wissenschaftlicher Standards: Für
den 84-jährigen Theodore Kisiel ist das "Familienunternehmen Gesamtausgabe"
ein "internationaler wissenschaftlicher Skandal". Marion Heinz, Philosophieprofessorin Uni Siegen, sekundiert ihm: Forscher, die sich an die Editionsvorgaben der Familie hielten,
gerieten in Widerspruch zu den Prinzipien von Kritik und Öffentlichkeit. Eine
heimliche Allianz aus Familie und öffentlich bezahlter Forschung habe sich
gebildet; sie diene nicht der Aufklärung, sondern führe zu Intransparenz und
Verschleierung.
Tatsächlich haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das
Literaturarchiv Marbach jahrzehntelang beträchtliche öffentliche Mittel für
Ankauf, Aufbewahrung und Erschließung des Heidegger-Nachlasses ausgegeben –
doch es sind immer die Erben, die darüber entscheiden, wer Zugang zu den
Manuskripten erhält. Deshalb fordert der Freiburger Philosoph Rainer Marten,
der selbst aus Heideggers Schülerkreis stammt, die Erben auf, sie sollten
endlich begreifen, dass Heideggers Werk der Welt und nicht der Familie gehöre.
Ob Kisiel, Heinz oder Marten: Ein wachsender Chor von Kritikern fordert, was
der französische Philosoph Emmanuel
Faye schon 2006 verlangte, nämlich Heideggers gesamten Nachlass für
die Forschung zu öffnen und damit den Weg für eine historisch-kritische Edition
frei zu machen.
Die Möglichkeit dazu hätte es längst gegeben. In den Jahren vor Heideggers
Tod wollte der Pfullinger Verleger Günther Neske zusammen mit den Verlagen
Niemeyer und Klostermann die Kräfte für eine historisch-kritische Ausgabe in einem
Konsortium bündeln, unterstützt von einer vom Land Baden-Württemberg
finanzierten Forschungsstelle. Als Gegenleistung hätte die Familie Heidegger
auf einen Teil der Publikationserlöse verzichten müssen.
---Prof. Marion Heinz und Dr. Sidonie Heinz organisieren im April 2015 eine Tagung an der Universität Siegen zu den Schwarzen Heften