Dienstag, Juli 24, 2007

Was kann "Philosophisches Reisen" sein?

von Birger Dreher (Uni Konstanz)

I) Einleitung 1

II) Darstellung Vollbrechts Position zum philosophischen Reisen 2

II.1) Kritikpunkte an der Form des Aufsatzes 4

II.2) Kritikpunkte am Inhalt 5

III) Vier Modelle philosophischen Reisens 7

IV) Verschiedene Typen von Fragen 11

V) Schluss 14

Literatur 15

I) Einleitung

Was kann das Reisen im Sinne der Philosophie für uns bedeuten und was ist überhaupt philosophisches Reisen? Peter Vollbrecht veranstaltet solche Reisen, die den Teilnehmern philosophische Themen näher bringen sollen, die tiefgründige Diskussionen als ein Reiseziel nennen und die an solche Orte führen, die von einem genius loci bewohnt werden, einem Geist, hier im Speziellen einem Geist der Philosophie. Der vorliegende Text von P. Vollbrecht ist eine Art Programmschrift, die auch immer wieder theoretische und methodische Bezüge aufzeigt. Der relevante Inhalt für die vorliegende Diskussion wird zuerst in Kürze dargestellt, dann folgen eine Kritik und eine analytische Darstellung von vier Modellen philosophischen Reisens. Aus der Kritik entwickele ich den Anspruch zuerst zu erläutern, was mit der Philosophie beim philosophischen Reisen gemeint sein könnte und dann gebe ich im letzten Teil der Arbeit ein fiktives Beispiel davon, wie eine solche Reise ablaufen könnte und was das Philosophische daran ist in Abgrenzung zu anderen Fragestellungen.
Ich werde mich bei all meinen Ausführungen nur auf den Artikel von Peter Vollbrecht beziehen, und somit verweisen auch alle Seitenzahlen in den Klammern hinter den Zitaten auf diesen Text .

II.) Darstellung Vollbrechts Position zum philosophischen Reisen

"Reisen ist eine hochphilosophische Tätigkeit" (11) ist einer der ersten Sätze, die dem Leser des Artikels ins Auge fallen. Und er erläutert: "Fernweh und Heimweh, dahinein ist das Reisen philosophisch gespannt: die Lust auf das Fremde, auf das Offene, und der ziehende Schmerz, der die Seele ergreift, wenn sie nach Heimat sich sehnt, nach Ursprung, Ruhe und Ewigkeit. Beide Pole sind ganz wesentliche Dimensionen menschlicher Existenz, denn Existieren heißt, sich zu entwerfen auf etwas, das man noch nicht ist, wie auch – im Gegenzug – sich zu erinnern an etwas, das man nicht mehr ist. Existieren heißt, philosophisch gesprochen, hinauszustehen über Gegenwart und Präsenz […]. Existieren bedeutet, philosophisch gesehen, weniger ein Sein denn ein Werden und ein Sehen, und weil das so ist, deshalb ist Existieren immer auch wie ein Zustand des Reisens." (11f).
Beim Reisen tritt wie beim Philosophieren der Denkende irgendwann auf eine "Meta-Ebene", von der aus ihm klar wird, dass etwas als selbstverständlich Empfundenes nur so erscheint und dass es hinterfragt werden kann und auch sollte. Zu reisen kann also Reflexion erzeugen, weil man die Grenzen des Vertrauten und das Fremde und die Relativität der Zustände bewusst erlebt. Das regt dazu an, Überzeugungen jeglicher Art zu reflektieren und dadurch zu neuen zu gelangen. Die Meta-Ebene scheint für Vollbrecht vor allem der Ort philosophischen Denkens zu sein.
Eine solche Meta-Ebene nennt Vollbrecht "Gedankenlandschaft". Er erläutert: "Beim Philosophieren begegnet mir die Begeisterung bisweilen so, dass ich plötzlich eine Gedankenlandschaft kurz aufscheinen sehe, auf die hin sich das gerade Gedachte weitet und in die es sich hineinmodelliert zeigt. Mein Zugang zu dieser Gedankenlandschaft ist eher visuell als theoretisch, ja, es bereitet mir eine vergebliche Mühe, das Gesehene in dieser diskursiven Topographie zu denken." (12). Beim Versuch, den Totaleindruck dieser Landschaft zu begreifen, verschwimmt und verschwindet die Landschaft bis man nur noch einen "spröden Gedanken" in der Hand hält, "abgeschnitten von dem, was ihm Leben und Bedeutung gegeben hatte" (13). Aber das, "was meinem Denken 'eigentlich' Kraft, Motivation, Evidenz und Ausdrucksstärke gegeben hat, das kam von woanders her, das schwebte ein aus einer geistig zu visualisierenden Landschaft. Und ich kann darauf vertrauen, dass es mir erneut gelingen wird, mit meinen Gedanken philosophische Landschaften zu bereisen." (ebd.).
Für Vollbrecht ist besonders wichtig, dass Ereignisse auf das Mich des Reisenden bezogen werden können, sonst bleiben sie "kurzlebige Events auf einer kaleidoskopartigen Bühne" […]. Damit das, was ich sehe, mich auch wirklich angeht, damit das, was mir begegnet, mir begegnet, muss ich die bereiste Welt in eine Erzählung einflechten können – die wirkliche Reise wird dann begleitet von einer Reise im Kopf" (ebd.). Der Bezug zum Kontext, in dem spezielle Reiseerfahrungen gemacht werden, wird hergestellt durch die selbstständige Beschäftigung mit Themen, die mit dem jeweiligen Ort verbunden werden können. Das Reisen wirkt als synthetisierende Kraft, indem sie die einzelnen Erkenntnisse zu einem stimmigen Bild zusammenfügt.
Beim Reisen tritt der Reisende in sinnlich und geistig erfahrbare Szenerien ein. Auf einer philosophischen Reise harmonieren Thema und Ort. Die Praxis sieht so aus, dass man mit einer Gruppe irgendwohin reist, wo sich bei gutem Ambiente Themen besprechen lassen die so gewählt sind, dass sie irgendeinen Bezug zum Ort haben. Ausschlaggebende Größe ist die Kommunikation unter den Teilnehmern. Nach drei Tagen fängt die Gruppe an sich eine eigene diskursive Identität zu geben. Positionen werden bezogen und Möglichkeiten für den Rückbezug geschaffen. Der Seminarleiter ist Moderator. Er muss die Diskussion der Gruppe führen können, gerade dann, wenn ein sich verstärkender Dissens die gute Gesprächsethik zu stören droht. Dabei dürfen verschiedene Ansichten nicht nivelliert werden, aber nichtsdestotrotz müssen Anschlussmöglichkeiten für alle erhalten oder wieder geschaffen werden.
Der theoretische Gehalt dieses "Gruppenkonsens" tritt irgendwann in den Hintergrund und wird ersetzt durch die "emotionale Übereinkunft" (18). Auf dieser Basis sind auch gegenteilige Meinungen ohne anschließende Feindschaften möglich.

Es ist nun etwas schwierig, all die Ausführungen, die Petter Vollbrecht unter dem Stichwort "Philosophisches Reisen" in seinem Artikel macht, auf das philosophische Reisen zu beziehen. Ein großer Teil seines Artikels besteht darin, die Gruppendynamiken zu beschreiben. Es ist aber dabei immer noch sehr unklar, was er mit diesem speziellen Typ des Reisens eigentlich verbindet. Bei ihm überschneiden sich verschiedene Modelle des Reisens, und welches davon nun das philosophische Reisen betrifft ist schwer verständlich.

II.1) Kritikpunkte an der Form des Aufsatzes

Allgemein zu kritisieren ist, dass der Artikel sehr stark durch unterschiedliche Strategien des Schreibens gebrochen wirkt. Zum einen vermischt sich der Typ einer Programmschrift mit dem Typ eines werbenden Textes für philosophische Reisen. Dabei wird nie recht klar, welches nun die Ziele der Veranstaltungen sind, bzw. welche der mehreren Ziele den Begriff "Philosophisches Reisen" schärfen. Das wird deutlich, als Vollbrecht selbst zugibt: Ist das angenehme Gesprächsklima das Ziel der Veranstaltung oder das explorative Gespräch (17)? Das Problem hierbei ist, dass man nicht klar sieht um was es beim philosophischen Reisen vor allem gehen sollte. Was erwartet den Teilnehmer? Eine Fahrt, die unter der Flagge der Erkenntnis stattfindet oder eine Vergnügungsfahrt? Zu Erkenntnis zu kommen kann Vergnügen bereiten, aber oft muss man für einen Zugewinn an Erkenntnis hart und diszipliniert bleiben, und das Vergnügen bleibt aus. Das Verhältnis von Vergnügen und Arbeit hätte in dem vorliegenden Artikel besser geklärt werden müssen.
Die andere Problematik ist die, dass sich ein wissenschaftlicher Duktus des Schreibens mit einem eher literarischen und "vagen" Schreiben vermischt. Was mag der Satz bedeuten: "Das Subjekt wird von einem Geist ergriffen und lädt sich philosophisch auf." (12)? Die Schwierigkeit äußert sich darin, dass man an der Stelle, an denen man genau auf die Worte schauen sollte, weil es sich bei dieser Stelle um eine Beschreibung oder Definition wesentlicher Elemente Vollbrechts Theorie über die philosophische Reise handelt, nicht mehr als solche erkennt oder sich nicht darauf verlassen kann, dass man ihn hier genauestens beim Wort nehmen darf. Abgesehen davon wird das Verständnis des Textes durch diese Art zu schreiben stark erschwert. Das Problem des Schreibstils ist verzahnt mit dem der Textgattung. Peter Vollbrecht vermischt die Arten des Redens bzw. Schreibens, die dem wissenschaftlichen Text und dem literarischen oder werbenden Text eigen sind und übersieht dabei, dass die beiden Textsorten verschiedene Ansprüche an den Leser haben und umgekehrt, der Leser mit verschiedene Ansprüche an die beiden Textgattungen herangeht; beim wissenschaftlichen Text wird er definitive, klare und erläuternde Aussagen erwarten, beim literarischen Text auratische, vage und deutende Sätze.

II.2) Kritikpunkte am Inhalt

Einige zentrale Aspekte beim philosophischen Reisen werden nicht klar. Unerwähnt bleibt, was für den Autor Philosophie überhaupt ist. Das festzulegen ist schwierig, denn wie wir wissen hat die Philosophie weder einen eindeutigen Gegenstand noch eindeutige Methoden. Dennoch könnte man einen Versuch wagen, der ganz konkret an das philosophische Reisen gebunden ist und auch nur im Zusammenhang damit gedacht werden sollte. Angenommen, im Zusammenhang mit dem philosophischen Reisen ist Philosophie das Stellen einer Menge von Fragen, die einen speziellen Charakter haben, der noch zu bestimmen ist, und das Bestreben im Denken darauf eine Antwort zu finden. Diese Annahme werde ich dem Autor in Zukunft aus guten Gründen unterstellen. Die guten Gründe ergeben sich aus Vollbrechts Vorgehen, das darin besteht, durch philosophische Literatur Fragen bei den Teilnehmern zu evozieren, die diesen speziellen Charakter haben. An dieser Stelle muss noch nicht klar sein, worin dieser spezielle Charakter zu bestehen hat. Es ist ja so, dass die Fragen im Rahmen des philosophischen Reisens bei Vollbrecht grundsätzlich philosophisch sind, denn sie entstammen der Philosophie der gelesenen Autoren.
Ein weiterer inhaltlicher Kritikpunkt ist die mangelhafte Bestimmung dessen, was Peter Vollbrecht als eine "Gedankenlandschaft" erläutert (12). Man vermutet augenblicklich, dass damit ein konsistenter Zusammenhang aus einzelnen Erkenntnissen gemeint ist, der dem Denkenden etwas klarmacht, etwas begreifen lässt. Und man vermutet auch, dass man diese Landschaft abgehen kann, Gedanke für Gedanke. Aber er scheint etwas ganz anderes damit zu meinen. Eher einen Eindruck von etwas, das vage Empfinden davon, dass etwas Sinn macht. Vielleicht ist darunter zu verstehen, dass jemand plötzlich weiß, "wie die Dinge laufen", es aber nicht anderen und sich selbst klarmachen kann. Der Begriff der Gedankenlandschaft oder "Ideenlandschaft" (ebd.) ist dafür aber ungeeignet, denn eine Landschaft kann doch üblicherweise abgegangen und überschaut werden. Bei Vollbrecht ist sie hingegen so fragil, dass man, wenn man das beschreitet, aus was sie bestehen soll, nämlich Gedanken und Ideen, einfach verschwimmt oder verschwindet. Das ist völlig unplausibel, wenn man die Metapher der Gedankenlandschaft ernst nimmt.
Vermutlich will der Autor hier nicht so ernst genommen werden und ich würde mich mit diesem Punkt auch nicht so abmühen, wenn ich darin nicht so viel von dem vermuten würde, was das Konzept des philosophischen Reisens eigentlich ausmachen könnte. Hier geht es nämlich um eine Reise, die im Kopf stattfindet, und nicht auf Land. Und es scheint auch so, dass das, was innerhalb der Gruppe der philosophisch Reisenden passiert, mit dem Begriff der Gedankenlandschaft sehr viel zu tun haben kann. Bei der gemeinsamen Diskussion lassen die Teilnehmer Stück für Stück eine Gedankenlandschaft entstehen, eine Landschaft aus Ideen und Begriffen und ihren Zusammenhängen. In diese scheinen sie allesamt hineingestellt zu sein, Tag für Tag mehr, sonst würden sie ja immer aneinander vorbei reden. Nur ist es in diesem Fall nicht so, dass die Landschaft von Anfang an für alle gegeben ist, sondern vielmehr, dass sie entweder erst erschaffen wird oder gefunden wird. Die erste Möglichkeit scheint plausibler zu sein, denn wenn es darum geht eine philosophische Position oder Theorie zu verstehen, muss man sie für sich selbst erst einmal neu erdenken – sie ist ja noch nicht im eigenen Kopf angelegt.

III) Vier Modelle philosophischen Reisens

Peter Vollbrecht verwendet drei oder vier verschiedene Modelle bzw. hat drei oder vier verschiedene Vorstellungen in seinem Artikel, die möglicherweise seiner Meinung nach nicht alle zutreffen mögen oder nur Teilaspekte eines Modells sind, dass dann aber mindestens mit einer großen Unklarheit behaftet ist, und zwar ob die eigentlich philosophische Reise primär im Kopf stattfindet und sekundär in der realen Welt oder umgekehrt. Ich will nun kurz die vier möglichen Modelle vorstellen.

1. Man philosophiert im Zusammenhang mit philosophischer Lektüre an den Orten, an denen sich die Autoren der Lektüren zu Lebzeiten auch aufgehalten haben und an denen diese Autoren die entsprechende Lektüre auch entwickelt haben. Z.B. liest man Nietzsches Moralphilosophie in Sils Maria in der Schweiz, wo er einst auf Kur war. Durch die Geschichte der Orte ist die Atmosphäre mit einem genius loci aufgeladen (14), das ist ein geistiges Klima, das an einem bestimmten Ort herrscht. Auf diese Weise stimuliert, eine Verknüpfung aus Ort und Autor, bekommt die Diskussion eine zusätzliche Bedeutung, die die Teilnehmer motiviert. Dabei ist wieder etwas unklar, ob die reale Reise lediglich sekundär ist, und die Reise durch Nietzsches Ideenwelt primär. Wie gesagt: diese Unterscheidung ist aber wichtig, wenn es darum geht zu klären, welche Stellung das Philosophische hat in dem Konzept des philosophischen Reisens.
Es kann auch darum gehen, die inspirierenden Kräfte der Atmosphäre dazu zu nutzen, die philosophischen Anstrengungen der örtlichen "Ideenschmieden" zu reflektieren. Damit ist gemeint, dass man in die Toskana fährt um die Renaissancephilosophie zu diskutieren und zu erörtern. Hier befindet man sich an dem Entstehungsort eines Themas oder einer Schule, deren Autoren nicht unbedingt in diesen Gebieten ihre Texte geschrieben haben müssen. Das Prinzip der beiden ersten Modelle ist das Stimulieren des gehobenen Denkens durch die Aura eines Ortes.

2. Im zweiten Modell "[…] kommt dem Wandern die Bedeutung zu, der Stimme der Natur zu lauschen – unverstellt von philosophischen Theoremen. Im Wandern wird der Begriff herausgefordert; Wandern und Philosophieren bringen Kopf und Körper zusammen, Sinnlichkeit und Verstand, Wandern und Philosophieren meinen den ganzen Menschen." (15). Hier deutet sich ein Verständnis davon an, dass mit philosophischem Reisen mehr gemeint sein könnte als nur an einem ferneren Ort zu verweilen und zu philosophieren. Die Bewegung des Reisens, das Sich-Bewegen durch den Realraum führt bei diesem Modell dazu, dass philosophische Ideen evoziert werden. Außerdem spielt hier die Natur als Erscheinung eine Rolle. Insgesamt geht es darum die Lücke zwischen Geist und Körper, die Spannungen zwischen beiden Polen dazu zu nutzen, das Denken herauszufordern. Kurz gesagt, die Aktivität des Körpers fördert die Aktivität des Geistes. Und die Befreiung des Körpers aus der Starre befreit auch den Geist. Hier geht es um eine Technik, besser Denken zu können.
Es spielt hier auch die Idee eine Rolle, dass die Natur selbst Kenntnis von der Welt besitzt, weil sie selbst Welt ist. Wenn man nur ruhig wird und das Rauschen im eigenen Kopf einer Stille weicht, in die hinein die Natur ihre Weisheit sprechen kann, dann erkenne man auf sanftem Wege entscheidende Zusammenhänge.
Zuletzt spielt hier die Idee von einer ganzheitlichen Philosophie eine Rolle. Körper und Geist sind eine Einheit. Das eine funktioniert nur gut, wenn das andere in einem Gleichgewicht dazu steht.

3. Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass man tatsächlich reist und dabei philosophiert. Diese wird von Peter Vollbrecht gar nicht so explizit genannt. Reisen kann auch bedeuten, unterwegs zu sein. Verbringt man eine Woche lang in Sils Maria, und jeweils einen halben Tag für Hin- und Rückreise, dann scheint es doch etwas fundamental anderes zu sein, wenn man sich auf eine Reise begibt, die einen über die Reisezeit immer wieder zu neuen Orten führt, bis man schließlich irgendwo ankommt und die Reise für einen zu Ende ist. Die Ruhe, die bei den anderen Modellen möglich ist, ist hier nur eingeschränkt gegeben. Unruhe und Impressionen, die stillen Momente der Verschnaufpausen oder der Zwangspausen beim Reisen reagieren dann mit den unausweichlich gemachten und gesammelten Erkenntnissen über die Welt, die an einem vorbeigezogen ist. Bei einer solchen Reise sind Begegnungen garantiert, Begegnungen mit der Natur aber auch mit Menschen, die aus völlig anderen Orten stammen, die jeweils andere Geschichten haben, sowohl individuelle Geschichten als auch Gemeinschaftsgeschichten. Man begegnet anderen Sitten, anderen Sprachen, anderen Weisheiten und vielem mehr. Bei dieser Art des Reisens wird man stärker anderen Sachverhalten gegenübergestellt als bei den vorherigen Modellen. Die Frequenz neuer Eindrücke muss nicht zwangsläufig höher sein, denn das hängt von der Verarbeitungsstrategie oder den Gewohnheiten des Reisenden ab. Auch während einer Woche in Sals Maria kann man theoretisch ebenso viele neuartige Eindrücke sammeln wie während einer Woche Reisen entlang der australischen Ostküste. Aber in dem Bergdorf trifft man auf eine Gemeinschaftsgeschichte, auf eine Sozialstruktur oder auf eine Infrastruktur. Vielleicht mag man die Erkenntnismöglichkeiten des dritten Modells eher als horizontal beschreiben, als flächig, und die des ersten und zweiten Modells eher als vertikal, als vertiefend.

4. Das mögliche vierte Modell ist die imaginäre Reise, auch kurz von Peter Vollbrecht angerissen (13). Dabei handelt es sich wahrscheinlich um das Erzeugen einer eigenen Ideenlandschaft, oder einer Gedankenlandschaft. Es geht darum, Erkenntnisse zu haben und aus ihnen auf grundsätzliche Aussagen zu kommen, indem man verschiedene Erkenntnisse durch Vergleiche hervorbringt und sie zueinander in Beziehung setzt. Es ist hier möglich sich überhaupt nicht im Realraum zu bewegen, also man kann auf das reale Reisen völlig verzichten. Hier geht es um eine innere Welt. Wobei diese innere Welt keine künstlerische oder sonst wie Geartete ist, sondern eine philosophische, die ihre Eigenheiten in den speziellen Fragen hat, die der Philosoph an die Welt stellt und an den Antworten, die er dafür als adäquat empfindet. Bei dieser Welt dreht es sich im besten Falle um eine elaborierte philosophische Theorie, ansonsten aber um eine Sammlung philosophischer Fragen und Erkenntnisse, die noch nicht in einem Zusammenhang stehen, vielleicht auch gar nicht stehen können, wenn sie sich auf ganz unterschiedliche Gegenstände beziehen. Aber wie auch immer, man kann das argumentative und konzeptionelle Denken, das sich aus philosophischen Fragestellungen ergibt, als eine philosophische Reise betrachten.
Es stellt sich allerdings unter dieser Perspektive die Frage, ob man nur alleine Reisen kann oder auch in der Gruppe. Die Frage muss wohl so beantwortete werden, dass eine philosophische Reise im Sinne des vierten Modells nur eine alleinige Reise sein kann, denn im eigenen Kopf denkt nur der Denker selbst. Und da es eine Reise ist, die nur über das Denken stattfindet, so wird man auf ihr alleine bleiben. Alles, was andere Menschen dazu beitragen können, sind Denkanstöße.

Bei allen vier Modellen ist die reale Reise keine Bedingung dafür, die letzten Endes stattfindende philosophische Diskussion (und Reise?) durchführen zu können. Trotzdem spielt bei Vollbrecht diese reale Reise natürlich eine dominante Rolle. Dass es einem Leser so erscheinen mag liegt vermutlich an der Textgattung, die ja wie schon erwähnt eine werbende Note hat, denn Peter Vollbrecht verdient mit diesen Reisen Geld und womöglich ist es die einzige Verdienstquelle. Die philosophische Reise erinnert einen deshalb in der Darstellung des Artikels eher an eine literarische Reise. Und so drängt sich einem das Gefühl auf, dass der Wert der Reise sehr viel mehr in ihrem Unterhaltungswert liegt als in dem Streben der Teilnehmer nach Bewusstseinserweiterung und Erkenntniszugewinn.
Nun sollte, aufbauend auf Vollbrechts Darstellung, der Frage nachgegangen werden, was eine philosophische Reise im Kern ausmachen müsste und inwieweit Vollbrechts Darstellung davon abweicht bzw. wo sie die Thematik unklar anreißt. Ich habe eingangs schon erwähnt, dass ich in dieser Arbeit Philosophie mit großer Vorsicht durch das Stellen spezieller Fragen und deren Beantworten und nur in Anlehnung an das philosophische Reisen charakterisieren will.

IV) Verschiedene Typen von Fragen

Es gibt unterschiedliche Typen von Fragen. Eine soziologische Frage wäre es, wenn man fragte 'wieso streben die Bolivianer nach Möglichkeiten im Ausland zu studieren oder zu arbeiten?'. Eine philosophische Frage, die sich an diese Frage anhängen lässt, aber auf einem viel abstrakteren Level steht, könnte sein 'wieso strebt der Mensch?'. Die erste Frage ist eindeutig eine sozialwissenschaftliche, wobei letztere das auch sein könnte, aber durchaus eine legitime Frage für einen Philosophen ist.
Dieses Beispiel soll auch zeigen, dass es unterschiedliche Frageinhalte gibt und dass man in dieser Menge nicht-philosophische Fragestellungen sehr gut erkennen und sie anderen Disziplinen zuordnen kann. Von Bedeutung ist allerdings, dass beim tatsächlich stattfindenden Reisen verschiedene Fragen erst entstehen und an die Umwelt gestellt werden, immer auch inspiriert durch die ständig wechselnde Szene, und dass es aber prinzipiell immer möglich ist, diese spezifischeren Fragen in generellere Fragen münden zu lassen. Die allgemeinen Fragen sind dann möglicherweise typisch philosophische Fragen, die durch ihre Diskussion in ein Thema der Philosophie münden. Die vier Fragen, auf die jede einzelne Frage, die in ihrem Kern philosophisch ist, zurückgeführt werden kann sind, sind die vier bekannten Kantschen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Ein anschauliches aber hypothetisches Beispiel sei dies:
Ein Deutscher reist nach und vielleicht auch durch Teile Schwarzafrikas. Dort bewundert er die Menschen für ihre Tänze und ihre Freude an der Bewegung. Er merkt auch, dass auf Konflikte zwischen Menschen oft erst weniger mit dem Kopf reagiert wird, denn als mit Kraft oder mit Wutausbrüchen. Ihm fällt auch auf, dass die Ausdrucksfähigkeit der Menschen dort eine andere ist, als die, die er von den Menschen seiner Heimat her kennt. In Schwarzafrika wird spontaner, lauter und freier gelacht, auch häufiger, allerdings wird auch Ärger sehr viel expressiver gezeigt. All diese beobachtbaren Differenzen bringen den Reisenden zum Nachdenken und zu der Frage 'woher diese Unterschiede?'. Dann mag er nach weiterem Nachdenken vermuten, dass wir kulturell anders "trainiert" sind, und zwar so, dass wir unser Nachdenken als Problemlöser ersten Ranges kultiviert haben, und im Zusammenhang damit spontane Reaktionen und deren Ausschlag stark zurückgedrängt wurden. Dann stellt sich die Frage, was wir unterdrücken und was sich bei den Schwarzafrikanern, die er beobachtet hat, in der Spontaneität äußert. Vielleicht stellt er für sich fest, dass bei den Schwarzafrikanern eher der Körper in der spontanen Reaktion auf plötzlich entstandene "Bauchgefühle" reagiert und dass man sich dort mehr durch körperliche Reaktionen auf Emotionen zu einem eher körperlichen Ausdruck hinreißen lässt, wobei es im Fall der anderen Gruppe eher der Geist ist, die Kategorie oder der Ort des intellektuellen Denkens, der sich im Ausdruck der Deutschen zeigt, auch oft im Ausbleiben von Körperausdruck oder im eingeschränkten Gebrauch dessen.
Und bei diesem Nachdenken landet der Reisende nun bei einem Thema, das man durchaus Geist-Seele Problem nennen kann. Um dorthin zu kommen war es u. a. wichtig, zwei relevante Phänomene miteinander zu vergleichen und mit dem Nachdenken nicht bei Erkenntnissen zu stoppen, die nur für den lokalen Gebrauch Gültigkeit besitzen.
Die philosophische Reise ist hier allerdings nicht das Reisen mit dem Körper von Deutschland nach Afrika oder von dort aus zurück. Die philosophische Reise fand hier und findet immer im Kopf statt. Von außen drang ja nur das Beobachtbare ein, und nur das Beobachtbare hing an Afrika oder an Deutschland und machte eine Reise notwendig. Die Schlüsse daraus entstanden durch Denkleistung, nicht durch die Leistung der Beine oder die von Transportmitteln.
Es handelt sich beim Denken um das Verknüpfen von Ideen durch eigene Leistung. Philosophisches Reisen wäre dann nichts anderes als das Fortschreiten von Idee zu Erkenntnis zu Idee usw.. Sie findet im Kopf des Denkenden statt und kann in den Augenblicken ihrer Unternehmung auch völlig ohne reales Reisen auskommen. Es ist auch legitim zu behaupten, dass philosophisches Reisen nicht an reales Reisen gebunden ist, denn die Informationen über die Welt, über die nachgedacht wird, müssen nicht durch Reisen erst gesammelt werden, vor allem nicht in unserem Zeitalter, in dem andere die Nachrichten aus fremden Ländern und fernen Gegenden für uns zu uns transportieren. Aber abgesehen davon ergeben sich bedenkenswürdige Situationen oft ums eigene Haus herum.

Jetzt stellt sich ernsthaft die Frage, ob Vollbrechts Verständnis von philosophischen Reisen nicht völlig kontraintuitiv ist oder viel zu wörtlich genommen. Kann man nicht vielmehr jeden Tag philosophisch reisen, durch die eigene Lebenseinstellung, die unter anderem darin besteht, eigene philosophische Fragen zu formulieren und ihnen nachzugehen, denkend? Vollbrechts Artikel erklärt nicht genau genug – für eine sinnvolle Abgrenzung – ob mit dem Reisen die reale Reise gemeint ist oder vielmehr die der "Ideenreise", die im Kopf stattfindet. Schließlich führt er seine Teilnehmer durchaus nicht nur an fremde Orte dieser Welt, sondern auch an fremde Orte in ihren Köpfen.

Sollte eine philosophische Reise zum Ziel haben, die eigene philosophische Weisheit zu finden? Die vorsichtige Antwort: wenn eine philosophische Reise ein Ziel haben muss, dann wohl nur die eigene Weisheit zu finden. Die Frage ist, kann man philosophisch Reisen ohne Ziel. Das sollte man nicht ausschließen, denn immerhin existiert rein hypothetisch der Fall, dass sich (philosophische) Erkenntnis einstellt unabhängig davon, dass man dabei zielstrebig vorgegangen ist. Die Reise definiert sich also nicht durch ein Ziel. Sie kann unfreiwillig stattfinden, sogar unbewusst, und auch ein Nebenprodukt ganz anderer Bestrebungen sein. Einer philosophischen Reise ist aber immer eigen, dass der Reisende Ideen über die Welt formuliert, sozusagen produziert. Er produziert Erkenntnis, und zwar eine Erkenntnis mit bestimmen qualitativen Merkmalen: allgemein (überindividuell, global), abstrakt und die vier Kantschen Fragen betreffend. Eine philosophische Reise ist immer bewusstseinserweiternd.

Nach all diesen Erläuterungen und der Kritik erscheint die Philosophie in Vollbrechts Vorstellung des Philosophischen Reisens eher als eine Etikette. Es scheint ihm in dem Aufsatz eher um die reale Reise zu gehen, zumindest dominieren die Beschreibungen der Realreisen den Text. Tatsächlich ist das aber nur der Rahmen für eine Reise im Kopf. Im Grunde ist Vollbrecht aber gleich zweimal Reiseveranstalter: Reiseleiter und Moderator. Er führt seine Gruppe durch die Lande und durch imaginäre Räume, in denen Ideen leben und in denen sich der Mensch durchs Denken fortbewegt.

V) Schluss

Ich habe zu zeigen versucht, dass im vorliegenden Artikel einige Unklarheiten und Verständnisprobleme dadurch entstehen, dass der Schreibstil und die Textgattung gemischt ist und zwischen Wissenschaftlichkeit und Werbung, zwischen Prägnanz und Vagheit. Unklar bleibt auch, was Vollbrecht unter Philosophie genau versehen möchte und was in diesem Zusammenhang philosophisch Reisen bedeuten kann. Möglicherweise hat er selbst keine klare Vorstellung, denn verschiedenen Ideen und Modelle überschneiden sich in seinem Artikel. Ich hatte versucht, vier Grundtypen des Reisens herauszustellen und an ihnen weiterzuarbeiten im Hinblick auf eine plausible und trennscharfe Vorstellung einer philosophischen Reise. Hierbei hat sich vor allem gezeigt, dass die Realreise und die imaginäre Reise für das philosophische Reisen eine Rolle spielen, allerdings ist die Realreise der imaginären nachgeordnet. Denn es geht beim Betreiben von Philosophie um das Stellen philosophischer Fragen und Bearbeiten dieser Fragen allein im Denken des Menschen. Dieses Denken kann stimuliert werden, es kann positiven Einflüssen unterstehen, wie z.B. einem genius loci oder der anregenden Bewegung des eigenen Körpers, aber die eigentliche philosophische Reise findet im Kopf statt, und gereist wird denkend.
Ich denke, dass es durchaus möglich wäre, ein klares Bild vom philosophischen Reisen zu entwickeln, ähnlich wie ich es hier versucht habe, und dennoch das Konzept werbewirksam einzusetzen, ohne Abstriche an Klarheit und Kohärenz und ohne einen – für ungeübte Leser wissenschaftlicher Literatur – langweiligen Text zu produzieren. Gerade die Funktion einer Reise in Bezug auf das Formulieren philosophischer Ansprüche müsste noch sehr viel klarer dargestellt werden, denn hierbei dreht es sich um eine elementare Frage: wie kommen wir zu Erkenntnis? Und im Sinne der Praktiker: was können wir tun um philosophisch zu er-leben und zu leben?

Literatur

Vollbrecht, Peter 2005: Alles Existieren ist Unterwegssein. Erfahrungen mit dem Experiment 'Philosophische Reisen'. In: Detlef Staude (Hg.): Lebendiges Philosophier

Aus Ton (Müsch) & Holz (Roth) 2007

Formen und Strukturen im Holz ‚sehen’.
Zu den Objekten von Mike Roth
in der Ausstellung „Aus TON (Müsch) und HOLZ“ 2007, bis 16.8. RADOLFZELL am Bodensee, Galerie DREIart, Regiment-Piemontstr. 7 Tel 07732 55 88 1

Ich freue mich, ein paar Worte sagen zu können zu den Skulpturen von Mike Roth,
und ich möchte mit zwei Vorbemerkungen beginnen:

Die hier ausgestellten Arbeiten von Mike Roth sind Stücke einer großen Passion, und wenn diese in Worten ausdrückbar wäre, dann bräuchte es nicht diese über-raschenden Formen und Strukturen aus Holz und die Veränderungen, die sie in diesem Raum z.B. bewirken.
Was ich sagen werde hat die Form von fünf kleinen Annäherungen, und ich werde mich dabei der einen oder anderen Arbeit von Mike Roth auch räumlich nähern.

Annäherung 1: Sinnliche Erfahrung

‚Verhüllt’, Ulme (Nr.3);


‚Philo-Surf’, Linde (Nr.1);

‚unterwegs’, istrische (Blitz)-Linde (Nr. 41).


Wünschbar: das Ertasten der Materialität und der Form der Objekte in einem Raum ohne Licht; die Fingerspitzen sind die Augen, das Sehen ist punktuell und geht von Kontaktpunkt zu Kontaktpunkt. Ertasten von ‚Verhüllt’, ‚Philo-Surf’, ‚unterwegs’, Ertasten von Ulme und Linde.
Im Raum hier: das visuelle ‚Erfassen’, die Ganzheit und Dauer der Objekte; das Ent-decken von Raum-Konfigurationen: Figuren-Ensembles, Trio-, Quartett-, Sextett-Konfigurationen. Auch Holz- und Ton-Figuren als Ensemble und Ver-bindungsbahnen: die riesige Ton-Kette, die Seil-Schlingungen, die Fäden durch die ‚Offene Mitte mit spitzen Flügeln’ (Trauerweide). Was verändert sich, wenn eins hinzukommt, und was, wenn eins entfernt wird?

Annäherung 2: Prozesse der Veränderung

‚Offene Mitte mit spitzen Flügeln’, Trauerweide (Nr.34)


Mike Roth spricht vom ‚Schwärmen im Holz’. Der Prozess des Ausschwärmens auf der Suche nach Resonanzobjekten, Bienen-Arbeit. Der Prozess der Schneidens transportierbarer Teilelemente und das Heimbringen ins ‚Feigenbaum-Atelier’ auf der Reichenau von kostbaren Holzproben von Riesenbäumen, im Holz materialisiertes Alter. Der Prozess des Reinigens, das Abtrennen der Borken-Oberflächen. Das Be-arbeiten der mitgebrachten Form, vorbearbeitet von Witterung und Zeit. Das Freilegen von Kern-Holz und das Anlegen einer neuen Form im Dialog mit der alten:
„Libérez la forme sans violence“ ¹– die zwanglose Befreiung der Form.

¹) so der Spruch an der Wand eines Collège in Le Havre
Prozesse der Veränderung im bearbeiteten Objekt – und im Bearbeiter: Privileg der Schöpferischen. - ‚Offene Mitte mit spitzen Flügeln’, Trauerweide.

Annäherung 3: Bedeutungsvolle Objekte

‚Reiner Buchenengel’, Buche (Nr. 11);‚Himmelsleiter’, Hainbuche (Nr. 10); ‚Altes Paar’, Hainbuche (Nr. 9); ‚Kriegskind’, Ulme (Nr.27); ‚dreibeiniger Odyss’, Leib: (vom Abstürzen ins Mittelmeer gerettete) Felsenbirne, Kopf: Kiefer (Nr. 28);
‚Kuno’, Linde (Nr. 31)
Die Form als mentale Vorstellung wird materialisiert, wird auf eine Form aus Holz projiziert. Markierungen im Holz werden im Auge des Künstlers, des Betrachters zu einer neuen Struktur verbunden, kreatives Sehen. Konkrete Objekte werden mit persönlichen Erlebnissen oder mit kulturellem Wissen verbunden. „Wir sehen nicht mit dem Auge sondern mit dem Gedächtnis und deshalb auch mit Gefühlen und Sprache. Visuelle Kommunikation ist „dual codiert“, d.h. man muss sich ein Bild [eine Skulptur (D.M.)] auch „erzählen“ können, um es „sinnvoll“ sehen zu können.“ (Bernd Scheffer ( vgl. http:// www.bernd-scheffer.de/fotografik/galerie09.htm))

Annäherung 4: sehen, sich sehen, gesehen werden

‚Selbstporträt’, Tanne (Nr. 14)

Sie ausgestellten Objekte sind aus der privaten Sphäre herausgenommen und öffentlich zugänglich gemacht, ausgestellt. Arten des Gestaltens und Formen des Sehens von Mike Roth werden uns zugänglich gemacht. Sie werden Objekte des Sehens im Auge des Betrachters, der sich selbst beobachten kann, wie er wahrnimmt und reagiert, und der die andern beobachten kann, wie sie wahrnehmen und reagieren. „Wir ‚sehen’ auf bestimmte Weise, d.h. wir interpretieren sensorische Informationen aufgrund bestimmter Regeln, entsprechend einer Lebensweise. Aber diese Regeln sind alles andere als konstant. Wir lernen vielmehr ständig neue Regeln und Interpretationen und sehen daher buchstäblich auf neue Weise.“ (Raymond Williams (vgl. Bernd Scheffer, a.a.0. galerie04)) - ‚Selbstporträt’, Tanne.

Annäherung 5: Familienzugehörigkeit

‚Auf den Schultern stehend’, Wildkirsche (Nr. 39)

a) Nach neusten Funden in Baden-Württemberg begann die figürliche Darstellung vor 35 000 Jahren – soweit zurück reicht die Kette ‚Auf den Schultern stehend’.
b) Nach keltischer Tradition waren in Bäumen große mystische und spirituelle Kräfte verborgen, und in mehreren Kulturen² bedeutete Holz berühren, sich unter den Schutz von Gottheiten zu stellen. ‚Toucher du bois’ , auf Holz klopfen.

²) so in der persischen Kultur (sich unter den Schutz von Atar, der Gottheit des Feuers, zu stellen) und in der ägyptischen Kultur (von einer magnetischen Kraft profitieren)

c) Mike Roth schickte mir 1973 einen Aufsatz von Jürgen Mittelstrass³ über
Spontaneität, mit Blick auf Kant und unter Verweis auf Aristoteles. Uns Menschen zeichnen Handlungen aus, „die unseren eigenen Konstruktionen, etwa in der Mathematik oder in der Logik, dienen“ (a.a.O. 62). Wir folgen dabei „keiner Vorschrift der Natur, die uns Ziele und Zwecke aufzwingen würde“. „Was diese Handlungen auszeichnet, ist vielmehr ihr transzendentaler Charakter, insofern nämlich ohne sie die dem Menschen eigentümliche Selbständigkeit nicht realisiert würde.“ (a.a.O.) Was Mittelstrass auf theoretische Konstruktionen bezogen hat, möchte ich auch auf künstlerische Konstruktionen beziehen, auf die hier ausgestellten Arbeiten von Mike Roth - womit zwei Seiten einer Person vereint wären, der Philosoph und der Künstler.

Mike Roth: herzlichen Dank für das Entdecken von Quellen, für das „Schwärmen im Holz“, in :
Ahorn, Buche, Douglasie, Felsenbirne, Hainbuche, Hartlaub-Eiche, Kiefer, Linde, Schwarz-Erle, Tanne, Trauerweide, Ulme, Weiß-Tanne, Wildkirsche, Zypresse.

Dr. Dieter Metzing 15.7.2007
Bonn
Prof. i.R. Universität Bielefeld

³) Jürgen Mittelstrass, „Spontaneität. Ein Beitrag im Blick auf Kant.“ In: Gerold Prauss (Hg.) Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, 1973, Neue Wissenschaftliche Bibliothek 63. Kiepenheuer & Witsch.

LEBENskunst & LebensKUNST I

V.M. Roth
Ein (überarbeiteter) Vortrag für gemischtes Publikum. SinnPraxis in der Galerie 3art, RADOLFzell am Bodensee. 16. Juli 007 zu Beginn der Ausstellung „Aus TON & HOLZ“*

Albert Camus im „Mythos des Sysiphos“ schreibt von jener wirklich philosophischen Frage, die er dort die einzige nennt und die man vielleicht eine erste existentielle Frage nennen könnte, nämlich (dem Sinne nach): „Nehme ich dies Leben, in das ich nicht freiwillig gekommen bin, an?“ – und ich unterstelle Ihnen, dass Sie diese Frage positiv –durch Weiterleben- existentiell beantwortet haben. Dieses JA-zum-Leben ist ein notwendiger erster Schritt: willkommen im Bereich der LEBENskunst!

Ich habe im Seminar dieses Sommersemesters 2007 „Lebenskunst in Philosophischer Praxis“ an der Uni Konstanz (htpp:/feigenblaetter.blogspot.com) Beispiele aus dem Selbsthilfezusammenhang der von Aphasie (=teilweisem Sprachverlust, meist verursacht durch Schlaganfall) ausgeführt und sie gedeutet als Erwerb von Lebenskunst unter geänderten Bedingungen, ein Leben trotz ...

Gerd Achenbach – er eröffnete 1981 in Bergisch Gladbach , Nähe Köln/Bonn, die erste Philosophische Praxis – hat in einer für mich uneinsichtigen Weise den „Lebenskünstler“ versucht schlecht zu reden. Der Münchner Philosophische Praktiker Bernd Groth charakterisiert diese Position (ohne sie zurückzuweisen) wie folgt:
„Der Lebenskünstler kenne keine Moral, sondern verstehe geschickt (immerhin!VMR) und ohne Rücksichtnahme auf Verluste (der Anderen VMR) jede Situation für sich auszunutzen“[1]
Bernd Groth selber geht es darum, „das positive Anliegen einer Lebenskunst-Philosophie aufzunehmen“ (Zusammenfassung, p.1) und dies gegen die „Kritik der Lebenskunst“ (Ffm 2007). Wobei nach seiner Einschätzung , die ich teile, ein Konzept philosopischer Lebenskunst zu haben, grundlegend für die philosophische Praxis sei (p.2).
* Geru MÜSCH (Ton) und Mike ROTH (Holz)
[1] Siehe den lesenswerten Beitrag via igpp.orgDie Zusammenfassung bezieht sich auf „Lebenskönnerschaft“, Reihe: Herder Spectrum, Freiburg i. B. 2001, 76-78

Montag, Juli 09, 2007

Harry Wolf: Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird am häufigsten mit der Philosophie in Verbindung gebracht
Jeder stellt sich die Frage irgendwann
1. Teil
Analyse der Frage: Sinn des Lebens
Leben: - Was ist der Sinn all dieses Lebens auf der Welt
- Was ist der Sinn der belebten Welt
- Was ist der Sinn meines individuellen Lebens
Also: - einen Grund zum Leben haben
- zu wissen, warum man auf der Welt ist
Sinn: à Was bedeutet Sinn?
- Was meinen wir z. B. mit sinnvoll?
Exkurs: Zusammenhänge wie z. B. Urzeigersinn, Orientierungssinn
Also: Richtungsanzeigende Wörter, z. B. italienisches Wort sentiero (= Weg)
- nach dieser Deutung: Richtung, Ausrichtung, Weg des Lebens
- Analogie: Fehlt uns der Sinn des Lebens, fällt es uns schwer uns i Leben zu orientieren.
- Überleitung mit Heidegger zur Verständlichkeit von Etwas
° sinnlos = nicht verständlich
° individueller Verständnishorizont = meine Beschreibung der Welt
2. Teil
Wann taucht die Frage auf?
In Problemlagen
In Zukunftsperspektiven
Auch Zukunftsgestaltung (Wertorientierung/Wertkonflikte)
mögliche Antwortgeber:
Religion: „Du sollst den Herrn, dein Gott, lieben und deinen Nächsten, wie dich selbst!“
Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“
„Glücklich sein und andere glücklich machen
Freude ist der Sinn des Lebens
Utilitarismus ausgehend von Epikur – Lust als höchstes Gut
Tautologie: Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst
· Es geht also um das Leben an sich
· Also: Was macht das Leben lebenswert
· Die Summe dessen wäre dann der Sinn des Lebens


Die Einführungen von Begriffen wie Glück bleiben in diesem Kontext ungeklärt

- in schweren Zeiten geht uns der Blick dafür verloren
Problematisierung der Sinnfrage: Vieles in der Welt ist sinnlos z. B. Krieg, Tot, Hunger usw.
Mensch als Sinnzerstörer
Frage: Gehört der Tod nicht auch zum Leben oder ist er eher das Ende de Lebens

3. Teil
Ein historischer Rückblick:
Frage erst seit Ende des 19. Jahrhunderts
Freud: „Wer die Frage stellt ist krank!“
Nietzsche: (Nihilismus) „Gott ist tot und wir haben ihn umgebracht!“
Dostojewski: „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt!“
Neuheit: Sinnlosigkeit wird zum Problem
In manchen Lebenslagen erscheint der Tod besser als das Weiterleben
Selbstmordgefahr: nach Albert Camus einziges wirkliches philosophisches Problem
o Er plädiert dafür die Absurdität und Sinnlosigkeit der Welt auszuhalten
o Folge: Versuch der Entkrampfung des Umganges mit der Sinnfrage
o Wäre es so schlimm, wenn es keinen tieferen Sinn gäbe?
o Frage: woher diese Sinnerwartung
Erklärung: Sinnsysteme - Wir sind herausgefallen (z. B. Christentum) und suchen jetzt neuen Halt in neuen Sinnsystemen
Untersuchung zum Verhältnis von Sprache und Welt:
o Wenn das Leben einen Sinn haben soll, dann müssen wir ihm einen geben!
o Mensch als Sinnstifter und nicht Sinnfinder
o „Habe den Mut, den Sinn deines Lebens stets neu zu erfinden

Anmerkung: Der Sinn des Lebens ≠ meinem Leben einen Sinn geben
Sinn kann auch Zweck bedeuten
Allgemeine Analyse der Frage wird im Vorfeld ausgegrenzt
Analyse der Frage nach dem Sinn des Lebens scheint etwas anderes als eine Gebrauchsanweisung, wie ich meinem Leben einen Sinn geben kann
Protokoll von S. G.
Anmerkung:
Der transskript-Verlagslektor hatte in den Beiträgen zu "Lebendiges Philosophieren. Philosophische Praxis im Alltag" (2005) die Leser nicht mit Anmerkungen abschrecken wollen.
Auf eine Nachfrage hin gab der Autor rasch diese Antwort: "Das Zitat von Heidegger findet sich in Sein und Zeit auf Seite 151: "Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von etwas hält."
(im Beitrag zum Sin des Lebens S. 108)
Das Zitat von Freud (im Beitrag S. 111) findet sich in: Siegmund Freud: Briefe 1873 - 1931.Ausgewählt und Herausgegeben von Ernst L. Freud. Frankfurt am Main 1916. An Maria Bonaparte 13. August 1937, a.a.O. p. 429: "Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht: man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat, und irgend etwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zu Trauer und Depression führt. Grossartig sind diese meine Aufklärungen gewiss nicht." Gefunden in: Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. Wilhelm FinkVerlag, München 2004. S. 180. Gruss Harry
Siehe auch: Anette S. Fintz, Die Kunst der Beratung, Bielefeld und Locarno 2006 , Anhang

Mittwoch, Juli 04, 2007

Lebenskunst – Lebenskönnerschaft – Lebensklugheit

Lebenskunst – Lebenskönnerschaft – Lebensklugheit
(Diskussionsbeitrag im Rahmen des Frühjahrstreffens der IGGP im Mai 2007 in Reutlingen)


Bernd Groth
www.bernd-groth.de


* 1949 in Köln
- Studium der Philosophie, Slawistik und Theologie
- 1985 Promotion in Frankfurt/Main
- von 1985 – 1998 Professor für Fundamentaltheologie & Religionsphilosophie in Rom

- Philosophische (Einzel)Beratung (email, persönlich, Rentner, Studenten)
- Redendienst (Rhetorik)
- Philosophische Gutachten (ethisch-moralische Beurteilung moderner Themen)


Freier philosophischer Berater
Vgl. seiner Tätigkeit mit der eines freiberuflichen Psychotherapeuten, Homöopathen etc., nur geht es ihm eben nicht um psychische oder körperliche Gesundheit, sondern „um grundlegende, existentielle Orientierung im persönlichen Leben“

Leitfrage: „Bin ich in der Lage mein Leben sinnvoll zu gestalten, oder lasse ich es einfach so dahin gehen?“

Philosophische Beratung:
Beratung zunächst „eine Hilfeleistung in Gesprächsform“, „ein Gespräch zwischen einem professionellen Ratgebenden und einem Ratsuchenden über ein Problem, das für den Ratsuchenden der Grund war, ein solches Gespräch zu suchen“
Philosophischen Beratung: „ein Gespräch mit einem Philosophen über die persönlichen lebenstragenden Überzeugungen aus Anlass eines aktuellen Problems (Not, Unbehagen, Unzufriedenheit, Krise). Sie ist ein zielorientiertes Gespräch über lebenstragende, erkenntnisleitende und handlungsbestimmende Überzeugungen, die uns oft nicht bewusst sind, aber unser Denken und Handeln fundamental bestimmen.“

Betont, dass in der griechisch-römischen Antike die Beratung als wichtige, wenn nicht sogar zentrale Aufgabe der Philosophie betrachtet wurde
Zitiert Seneca (moralische Briefe an Lucilius 4,38): „Philosophie ist ein guter Rat – philosophia bonum consilium est.“

→ Für alle, die keine Psychotherapie benötigen oder religiöse Betreuung wollen, die jedoch eine Orientierung in existientiellen Fragen suchen - unabhängig von religiösen oder weltanschaulich-ideologischen Einstellungen.
Zitat:
„In der Philosophischen Beratung geht es um die Anwendung der Philosophie auf die existentiellen Fragen, Probleme und Gesichtpunkte, die in der Beratung zur Sprache kommen. Die Philosophische Beratung kann zum Ort eines dialogischen Philosophierens werden, wobei der Berater sein philosophisches Wissen (seine Kompetenz) einbringt, um das persönliche Wissen des Besuchers unter dem Leitgedanken der Weisheit, der als Globalziel für beide gilt, zu »prüfen«. In diesem Sinne kann die Philosophische Beratung auch zu einer Art Lebenshilfe werden.“

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Text


0. Zusammenfassung

Ausgangspunkt: Kritik an zwei Entwürfen moderner Lebenskunst-Philosophie
- Spätwerk Michel Foucaults (1926 – 1984) Ästhetik der Existenz
- Lebenskunst Philosophie von Wilhelm Schmid (*1953)
Ausdruck problematisch, weil er zwei Begriffe miteinander kombiniert, die vom Standpunkt der aristotelischen Handlungstheorie aus als inkompatibel gelten

(Ähnliche Problematik „Lebenskönnerschaft“-Begriff Gerd Achenbachers, der diesen Begriff anstelle von Tugend verwendet)

Um diese Probleme zu vermeiden, überzogene Erwartungen zu dämpfen und das positive Anliegen einer Lebenskunst Philosophie aufzunehmen, greift Groth auf den Begriff der Phronesis zurück (lat. Prudentia, deutsch etwa Lebensklugheit – im Sinne von praktischer Vernunft!)

Phronesis ≠ Fachwissen
= Augenmaß, Angemessenheit, Realitätssinn, Orientierung am bonum commune

„Darin besteht ihre bleibende Aktualität. Sie ist die Voraussetzung, sich in den Widerfahrnissen des Lebens zu bewähren, und damit gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Tugenden (im Sinne von Lebenstüchtigkeit)“ S.1.


Begriff der Lebenskunst: in antiker Philosophie in Verbindung mit dem Begriff des guten Lebens (eudaimonia/vita beata); heute eher Neuschöpfung des eigenen Selbst

Sei Ziel: nichts gänzlich Neues zu sagen, sondern es soll lediglich eine „alte philosophische Weisheit wieder aus der Versenkung herausgeholt und ihre Aktualität betont werden“

Ausgangspunkt: „Kritik der Lebenskunst“ (er hält Auseinandersetzung mit diesem Begriff für unabdingbar für philosophische Praktiker)
Wolfgang Kersting/Claus Langbehn (Hg.) / Suhrkamp 2007


1. Die Kritik der philosophischen Lebenskunst

- Das Buch versammelt zwölf Beiträge verschiedener Autoren
- Im Visier der Kritik wie gesagt das Spätwerk Michel Foucaults (Ästhetik der Existenz) und die Lebenskunst-Philosophie von Wilhelm Schmid
- Foucaults Spätphilosophie und deren Hinwendung zur antiken Philosophie der Lebenskunst waren Anstoß und Anregung für Wilhelm Schmid (wenn auch unterschiedliche Zielsetzung)

Zitat S.3 (Zielsetzung Schmids eher bescheiden: Lebenshilfe durch selbständige und reflektierte Lebensführung)

Foucaults Lebenskunst-Konzept eher technischer Natur: „Ästhetik der Existenz“ versteht er als Praxis der Freiheit und Askese (nicht im Sinne von Enthaltsamkeit, sondern) als Übung oder Einübung „und dazu bedarf es geeigneter Praktiken mentaler und körperlicher Art“ S. 4

Kritik an den Konzepten
Vorwurf „sie legten in der Nachfolge Nietzsches Lebenskunst als Selbsterschaffung aus, entwerfen gelungenes Leben als postmodernen Optionalismus, in dem alles zur Wahl steht, selbst die Kriterien, nach denen gewogen, gewählt und entschieden wird“ S.4
Foucault: nicht realisierbare und das Subjekt überfordernde Selbsterschaffung
Schmid: Sammelsurium von Binsenweisheiten (ähnlich Ratgeberliteratur), Wellness-Service
→ polemisch, Groth stimmt der Stossrichtung aber zu (Selbstverwirklichungsphantasie)

aber: keiner der Kritiker verfügt über – wie Schmid – über die Erfahrung philosophischer Praxis




2. Die Problematik des Begriffs „Lebenskunst“

Problematik des Begriffs der Lebenskunst:
Zunächst, weil er etwas verspricht, das nicht gegeben ist (vermittelt das Verständnis, „das Leben selbst könne Gegenstand des Herstellens werden, wie man einen beliebigen Gebrauchsgegenstand produziert“ S.5)

Ausdruck des Begriffs Lebenskunst:
- vermutlich Übersetzung des lat. ars vitae (griech. Ausdruck technê tou biou im Altertum nicht belegt)
- im Mittelalter wird der Begriff ars geradezu inflationär verwendet (die Kunst zu…)
- Philosophiehistoriker Pierre Hadot nimmt das antike Modell der Lebenskunst wieder auf und formuliert es als philosophische LebensFORM
- Gerd Achenbach zieht den Begriff der LebensKÖNNERschaft vor, will ihn von dem des Lebenskünstlers abgrenzen (aber selbe etymologische Wurzel Zitat S.6 überzogen)

Wichtig ist, dass Tugend und Klugheit zusammengebracht werden (Josef Pieper). „Die Klugheit ist gleichsam die Seele der Tugend“. S.6
Aber Tugend ist nicht vollendetes Können, sondern Bestheit/aretê
Tugenbestheit meint nach Aristoteles eine Grundhaltung und hat zunächst nichts mit einem Können zu tun:
Phronesis (Klugheit) ist eine Aretê (Tugend) und nicht eine Technê (Kunstfertigkeit, Sachkundigkeit.“ (Nikomachische Ethik) S.6

Poiesis (Herstellen) Hervorbringen! Technê (Kunst)
Praxis (Handeln) Vollzug! Phronesis (Lebensklugheit)

Das Leben (bios) kann laut Aristoteles nicht Ausdruck von technê sein, weil man es nicht herstellen oder produzieren kann wie einen Gebrauchsgegenstand (also nicht Gegenstand einer handwerklichen Kunstfertigkeit). „Der Mensch, der sich ja immer schon im Leben vorfindet, kann mit ihm nicht instrumentell umgehen und es vor allem nicht nach eigenem Gustus herstellen.“ S.7


Also sind technê (ars) und bios (vita) zwei inkompatible Begriffe, der Begriff der Lebenskunst/Lebenskönnerschaft sollte vermieden werden!








3. „Lebensklugheit“ statt „Lebenskunst“

Vorschlag: Begriff der Lebensklugheit (praktischer Vernünftigkeit), aristotelischer Begriff der Phronesis (Handlungstheorie: Der Mensch verwirklicht handelnd sich selbst.)
Phronesis:
- Bedachtheit, Besonnenheit, praktische Vernünftigkeit, praktische Lebensweisheit
- Synonym für sophia in ihrer irdisch-realistischen Form als sorgfältige Überlegung (Handeln in Bereichen ohne Regeln, Theorie)
„Wer klug handelt, ist auch klug.“ S.8
- Fähigkeit zur Entscheidung für das Richtige und Gute!

Konzeptionen:
+ Aristoteles (wahrhaft denkende Grundhaltung in allem Verhalten bei dem, wo es um den Menschen geht)
+ Thomas von Aquin (praktische Handlungskompetenz, verbindet das Einzelne mit der Vernunft; entscheidet, wie ein Ziel vernünftigerweise verfolgt wird, Wirklichkeitsbezug; Gut und Klug gehören zusammen)
+ Epikur (Phronesis als höchstes Gut) S.9
+André Compte-Sponville (Unterscheidungskriterium zwischen einer Verantwortungsethik und einer Pflichtenethik; das rechte Maß)

Leben als Ort der „Bewährung“/existentielle Herausforderung – praktische Vernunft, Lebensklugheit ist gefragt


4. Die Aneignung der Phronesis (Lebensklugheit) als einer Beratungskompetenz

Nicht erlernbar, sondern durch andauernde Praxis und Erfahrung anzueignen (?)

Vorbehaltlose Offenheit für die Wirklichkeit, ein an Vernunft und am Guten orientiertes Handeln (≠ Fanatismus)

Augenmaß, Angemessenheit, Wirklichkeitsbezug und Orientierung am Guten machen den Kernbestand der Lebensklugheit sowie ihre bleibende Aktualität aus

Also → Phronesis gehört unbedingt zur Eigenschaft oder Kompetenz eines philosophischen Beraters / evtl. sogar Angelpunkt des Bildungsprozesses in der philosophischen Beratung
„Die Ausbildung einer solchen Phronesis könnte zum Unterscheidungsmerkmal von Psychotherapie und philosophischer Praxis werden.“ S.13

aber wie?

Ref. von Julia Raupach im Seminar "Lebenskunst in philosophischer Praxis"