Mittwoch, Juli 04, 2007

Lebenskunst – Lebenskönnerschaft – Lebensklugheit

Lebenskunst – Lebenskönnerschaft – Lebensklugheit
(Diskussionsbeitrag im Rahmen des Frühjahrstreffens der IGGP im Mai 2007 in Reutlingen)


Bernd Groth
www.bernd-groth.de


* 1949 in Köln
- Studium der Philosophie, Slawistik und Theologie
- 1985 Promotion in Frankfurt/Main
- von 1985 – 1998 Professor für Fundamentaltheologie & Religionsphilosophie in Rom

- Philosophische (Einzel)Beratung (email, persönlich, Rentner, Studenten)
- Redendienst (Rhetorik)
- Philosophische Gutachten (ethisch-moralische Beurteilung moderner Themen)


Freier philosophischer Berater
Vgl. seiner Tätigkeit mit der eines freiberuflichen Psychotherapeuten, Homöopathen etc., nur geht es ihm eben nicht um psychische oder körperliche Gesundheit, sondern „um grundlegende, existentielle Orientierung im persönlichen Leben“

Leitfrage: „Bin ich in der Lage mein Leben sinnvoll zu gestalten, oder lasse ich es einfach so dahin gehen?“

Philosophische Beratung:
Beratung zunächst „eine Hilfeleistung in Gesprächsform“, „ein Gespräch zwischen einem professionellen Ratgebenden und einem Ratsuchenden über ein Problem, das für den Ratsuchenden der Grund war, ein solches Gespräch zu suchen“
Philosophischen Beratung: „ein Gespräch mit einem Philosophen über die persönlichen lebenstragenden Überzeugungen aus Anlass eines aktuellen Problems (Not, Unbehagen, Unzufriedenheit, Krise). Sie ist ein zielorientiertes Gespräch über lebenstragende, erkenntnisleitende und handlungsbestimmende Überzeugungen, die uns oft nicht bewusst sind, aber unser Denken und Handeln fundamental bestimmen.“

Betont, dass in der griechisch-römischen Antike die Beratung als wichtige, wenn nicht sogar zentrale Aufgabe der Philosophie betrachtet wurde
Zitiert Seneca (moralische Briefe an Lucilius 4,38): „Philosophie ist ein guter Rat – philosophia bonum consilium est.“

→ Für alle, die keine Psychotherapie benötigen oder religiöse Betreuung wollen, die jedoch eine Orientierung in existientiellen Fragen suchen - unabhängig von religiösen oder weltanschaulich-ideologischen Einstellungen.
Zitat:
„In der Philosophischen Beratung geht es um die Anwendung der Philosophie auf die existentiellen Fragen, Probleme und Gesichtpunkte, die in der Beratung zur Sprache kommen. Die Philosophische Beratung kann zum Ort eines dialogischen Philosophierens werden, wobei der Berater sein philosophisches Wissen (seine Kompetenz) einbringt, um das persönliche Wissen des Besuchers unter dem Leitgedanken der Weisheit, der als Globalziel für beide gilt, zu »prüfen«. In diesem Sinne kann die Philosophische Beratung auch zu einer Art Lebenshilfe werden.“

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Text


0. Zusammenfassung

Ausgangspunkt: Kritik an zwei Entwürfen moderner Lebenskunst-Philosophie
- Spätwerk Michel Foucaults (1926 – 1984) Ästhetik der Existenz
- Lebenskunst Philosophie von Wilhelm Schmid (*1953)
Ausdruck problematisch, weil er zwei Begriffe miteinander kombiniert, die vom Standpunkt der aristotelischen Handlungstheorie aus als inkompatibel gelten

(Ähnliche Problematik „Lebenskönnerschaft“-Begriff Gerd Achenbachers, der diesen Begriff anstelle von Tugend verwendet)

Um diese Probleme zu vermeiden, überzogene Erwartungen zu dämpfen und das positive Anliegen einer Lebenskunst Philosophie aufzunehmen, greift Groth auf den Begriff der Phronesis zurück (lat. Prudentia, deutsch etwa Lebensklugheit – im Sinne von praktischer Vernunft!)

Phronesis ≠ Fachwissen
= Augenmaß, Angemessenheit, Realitätssinn, Orientierung am bonum commune

„Darin besteht ihre bleibende Aktualität. Sie ist die Voraussetzung, sich in den Widerfahrnissen des Lebens zu bewähren, und damit gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Tugenden (im Sinne von Lebenstüchtigkeit)“ S.1.


Begriff der Lebenskunst: in antiker Philosophie in Verbindung mit dem Begriff des guten Lebens (eudaimonia/vita beata); heute eher Neuschöpfung des eigenen Selbst

Sei Ziel: nichts gänzlich Neues zu sagen, sondern es soll lediglich eine „alte philosophische Weisheit wieder aus der Versenkung herausgeholt und ihre Aktualität betont werden“

Ausgangspunkt: „Kritik der Lebenskunst“ (er hält Auseinandersetzung mit diesem Begriff für unabdingbar für philosophische Praktiker)
Wolfgang Kersting/Claus Langbehn (Hg.) / Suhrkamp 2007


1. Die Kritik der philosophischen Lebenskunst

- Das Buch versammelt zwölf Beiträge verschiedener Autoren
- Im Visier der Kritik wie gesagt das Spätwerk Michel Foucaults (Ästhetik der Existenz) und die Lebenskunst-Philosophie von Wilhelm Schmid
- Foucaults Spätphilosophie und deren Hinwendung zur antiken Philosophie der Lebenskunst waren Anstoß und Anregung für Wilhelm Schmid (wenn auch unterschiedliche Zielsetzung)

Zitat S.3 (Zielsetzung Schmids eher bescheiden: Lebenshilfe durch selbständige und reflektierte Lebensführung)

Foucaults Lebenskunst-Konzept eher technischer Natur: „Ästhetik der Existenz“ versteht er als Praxis der Freiheit und Askese (nicht im Sinne von Enthaltsamkeit, sondern) als Übung oder Einübung „und dazu bedarf es geeigneter Praktiken mentaler und körperlicher Art“ S. 4

Kritik an den Konzepten
Vorwurf „sie legten in der Nachfolge Nietzsches Lebenskunst als Selbsterschaffung aus, entwerfen gelungenes Leben als postmodernen Optionalismus, in dem alles zur Wahl steht, selbst die Kriterien, nach denen gewogen, gewählt und entschieden wird“ S.4
Foucault: nicht realisierbare und das Subjekt überfordernde Selbsterschaffung
Schmid: Sammelsurium von Binsenweisheiten (ähnlich Ratgeberliteratur), Wellness-Service
→ polemisch, Groth stimmt der Stossrichtung aber zu (Selbstverwirklichungsphantasie)

aber: keiner der Kritiker verfügt über – wie Schmid – über die Erfahrung philosophischer Praxis




2. Die Problematik des Begriffs „Lebenskunst“

Problematik des Begriffs der Lebenskunst:
Zunächst, weil er etwas verspricht, das nicht gegeben ist (vermittelt das Verständnis, „das Leben selbst könne Gegenstand des Herstellens werden, wie man einen beliebigen Gebrauchsgegenstand produziert“ S.5)

Ausdruck des Begriffs Lebenskunst:
- vermutlich Übersetzung des lat. ars vitae (griech. Ausdruck technê tou biou im Altertum nicht belegt)
- im Mittelalter wird der Begriff ars geradezu inflationär verwendet (die Kunst zu…)
- Philosophiehistoriker Pierre Hadot nimmt das antike Modell der Lebenskunst wieder auf und formuliert es als philosophische LebensFORM
- Gerd Achenbach zieht den Begriff der LebensKÖNNERschaft vor, will ihn von dem des Lebenskünstlers abgrenzen (aber selbe etymologische Wurzel Zitat S.6 überzogen)

Wichtig ist, dass Tugend und Klugheit zusammengebracht werden (Josef Pieper). „Die Klugheit ist gleichsam die Seele der Tugend“. S.6
Aber Tugend ist nicht vollendetes Können, sondern Bestheit/aretê
Tugenbestheit meint nach Aristoteles eine Grundhaltung und hat zunächst nichts mit einem Können zu tun:
Phronesis (Klugheit) ist eine Aretê (Tugend) und nicht eine Technê (Kunstfertigkeit, Sachkundigkeit.“ (Nikomachische Ethik) S.6

Poiesis (Herstellen) Hervorbringen! Technê (Kunst)
Praxis (Handeln) Vollzug! Phronesis (Lebensklugheit)

Das Leben (bios) kann laut Aristoteles nicht Ausdruck von technê sein, weil man es nicht herstellen oder produzieren kann wie einen Gebrauchsgegenstand (also nicht Gegenstand einer handwerklichen Kunstfertigkeit). „Der Mensch, der sich ja immer schon im Leben vorfindet, kann mit ihm nicht instrumentell umgehen und es vor allem nicht nach eigenem Gustus herstellen.“ S.7


Also sind technê (ars) und bios (vita) zwei inkompatible Begriffe, der Begriff der Lebenskunst/Lebenskönnerschaft sollte vermieden werden!








3. „Lebensklugheit“ statt „Lebenskunst“

Vorschlag: Begriff der Lebensklugheit (praktischer Vernünftigkeit), aristotelischer Begriff der Phronesis (Handlungstheorie: Der Mensch verwirklicht handelnd sich selbst.)
Phronesis:
- Bedachtheit, Besonnenheit, praktische Vernünftigkeit, praktische Lebensweisheit
- Synonym für sophia in ihrer irdisch-realistischen Form als sorgfältige Überlegung (Handeln in Bereichen ohne Regeln, Theorie)
„Wer klug handelt, ist auch klug.“ S.8
- Fähigkeit zur Entscheidung für das Richtige und Gute!

Konzeptionen:
+ Aristoteles (wahrhaft denkende Grundhaltung in allem Verhalten bei dem, wo es um den Menschen geht)
+ Thomas von Aquin (praktische Handlungskompetenz, verbindet das Einzelne mit der Vernunft; entscheidet, wie ein Ziel vernünftigerweise verfolgt wird, Wirklichkeitsbezug; Gut und Klug gehören zusammen)
+ Epikur (Phronesis als höchstes Gut) S.9
+André Compte-Sponville (Unterscheidungskriterium zwischen einer Verantwortungsethik und einer Pflichtenethik; das rechte Maß)

Leben als Ort der „Bewährung“/existentielle Herausforderung – praktische Vernunft, Lebensklugheit ist gefragt


4. Die Aneignung der Phronesis (Lebensklugheit) als einer Beratungskompetenz

Nicht erlernbar, sondern durch andauernde Praxis und Erfahrung anzueignen (?)

Vorbehaltlose Offenheit für die Wirklichkeit, ein an Vernunft und am Guten orientiertes Handeln (≠ Fanatismus)

Augenmaß, Angemessenheit, Wirklichkeitsbezug und Orientierung am Guten machen den Kernbestand der Lebensklugheit sowie ihre bleibende Aktualität aus

Also → Phronesis gehört unbedingt zur Eigenschaft oder Kompetenz eines philosophischen Beraters / evtl. sogar Angelpunkt des Bildungsprozesses in der philosophischen Beratung
„Die Ausbildung einer solchen Phronesis könnte zum Unterscheidungsmerkmal von Psychotherapie und philosophischer Praxis werden.“ S.13

aber wie?

Ref. von Julia Raupach im Seminar "Lebenskunst in philosophischer Praxis"

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