Wissen des Nichtwissens ?
Sokrates
fragt seinen Gesprächspartner ( in Platons Dialog Theaitetos)
, ob er gehört habe, dass er der Sohn einer tüchtigen
Hebamme sei, was der Befragte bejaht. Die Frage
danach, ob er auch wisse, dass Sokrates dieselbe Kunst ausübe
wie die Hebamme verneint er, worauf Sokrates antwortet: „Wisse
denn, dem ist so. Verrat mich aber nicht, ... denn es weiß
niemand von mir, daß ich diese Kunst besitze. Da es nun die
Leute nicht wissen, so sagen sie mir auch dieses zwar nicht nach,
wohl aber, daß ich der wunderlichste aller Menschen wäre
und alle zum Zweifeln brächte. Gewiß hast du das gehört“
[149 St 1 A] - Theaitetos bejaht.
Sokrates erklärt nun ausführlich, was unter dieser 'Kunst'
zu verstehen ist, dem Gesprächspartner bei der Geburt von
GedankenKindern beizustehen. (Das könnte auch in einem Café
Philo sein) Siehe dazu etwa Odo
Marquard im Historischen
Wörterbuch der Philosophie: „Den Begriff Philosophische
Praxis (PP) hat Gerd
B. Achenbach 1981 ... geprägt: unter PP versteht er die
professionell betriebene philosophische Lebensberatung, die in der
Praxis eines Philosophen geschieht. ... Sie verordnet keine
Philosopheme, verabreicht keine philosophische Einsicht, sondern sie
setzt das Denken in Bewegung: philosophiert.“ [
http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische_Praxis]
Die
sokratisch-philosophische 'Kunst' beinhaltet, dass der
Lehrende/Fragende den Lernenden/Befragten darin unterstützt, die
Erkenntnis/Wahrheit -in einem Prozess ähnlich dem
Geburtsvorgang- ans Licht zu bringen. Der Lernende wird dabei durch
geschickte Fragen angeleitet, sich selbständig mit einem
Problem auseinanderzusetzen, Lösungswege und Lösungen
werden nicht vorgegeben, sondern sollen selbst entwickelt bzw.
gefunden werden. Da das meist nicht einfach ist, kann es die
Befragten in die Situation des Zweifelns an sich selbst bringen. Und
'zweifeln' wird auch die eine oder andere Gebärende, wenn sie
schon ganz erschöpft ist, und das Kind immer noch nicht 'ans
Licht' will... (sagt Mutter Christine)
Methodisch
sieht das so aus, dass der Fragende immer wieder mit weiterem
Nachfragen oder auch Zurückgeben von Fragen, der Form der
offenen Fragen, der 'W-Fragen' (z.B.:Warum meinst Du, dass das so und
so ist?/ Was ist das, das Du da meinst?), die Befragten dazu bringt,
selbst Antworten zu finden / zu geben. Letztendlich findet ein
Dialog, oft ein Zwiegespräch zwischen 'Vordenker'
(Sokrates) und 'Mitdenker'
statt, wobei die Selbstläuterung von beiden
das Ziel ist: „...ein Philosophieren,
das ... auf Prozesse
des Bewusstwerdens ausgelegt ist.“
Der Sokratische Dialog (bei Platon)
Im
6. Kapitel „Definition, Dialektik und das Gute“ seines
schmalen Bändchens PLATO beschreibt Hare
Sokrates Anliegen, das dieser mit seinen 'Was ist...?'-Fragen hat,
als „Rechenschaft geben“. Darin liege der Kern des
Philosophierens. Platon und Sokrates argumentieren, dass es nicht
hinreiche, richtige Meinungen (ortheDOXA) zu haben. Erst wenn diese
gerechtfertigt werden, können sie als sicher und zuverlässig,
als WISSEN gelten: „Wenn wir die
Wörter verstehen können, in denen wir die uns
beschäftigenden Probleme darlegen, dann können wir für
sie im nächsten Schritt begründete Lösungen suchen.
Genau das ist das Anliegen der Philosophie“ (Hare
verbindet diese Aussage mit einem Verweis auf Wittgensteins Lehrer
Frege, der sich auf Sokrates Worte bezieht, mit der Aussage, dass das
'Wissen des Nichtwissens' vielen
als Vorbedingung des Lernens fehle.) Diese Problematik sieht Hare
im Dialog Euthyphron
dargestellt. Besonders in Zeiten sittlicher oder politischer
Verunsicherung kann der Anschluss an die Mehrheitsmeinung nicht
ausreichen: wir müssen uns selber durchdenken / „we
have to think the thing out for ourselves“.
Sokrates'
Methode der 'Prüfung'
(ELENCHOS) beschreibt
er als ein Entlocken von Antworten auf seine Fragen. Die Antworten
wurden dann ABER durch Sokrates oft zunichte gemacht, wenn er
nachweisen konnte, dass diese in Widerspruch zu Behauptungen standen,
die das jeweilige „Opfer“, oder sogar die Allgemeinheit, nicht
aufgeben wollte. Hare sieht in der Argumentation die Problematik,
dass nicht klar ist, ob so die Meinung/en abgelehnt würde/n oder
die Bestimmung der verwendeten Wörter. Deshalb schlägt er
vor, Platon so zu interpretieren, dass die Definition, die in den
Selbstwiderspruch führt, abgelehnt werden muss.
Martens
thematisiert,
welche Bedeutung dem dialogisch an Argumenten und Gegenargumenten
orientierten Prozess des Denkens, der durch die sokratische Methode
bewirkt wird, zukommt: „Noch
vor fachphilosophischen Unterscheidungen und arbeitsteiligen
Einengungen einzelner Methoden und Richtungen besteht das Spezifikum
des sokratischen Philosophierens aber vor allem in seiner
lebensweltlichen Fülle und alltagssprachlichen Nähe,...“
und er verweist auf Adorno:
„Darin, daß die
Philosophie ihre Begriffe in einem so weiten Maß der von Allen
gesprochenen Sprache entlehnt, hat sie ihre Beziehung auf das Ganze;
so, wie es etwa Sokrates gegenwärtig gewesen sein mag, [ ],
weil es Fragen sind, die alle Menschen angehen und die auch in ihrer
Sprache sich behandeln lassen. Durch den Prozeß der
Verfachlichung oder Spezialisierung werden auch diese Termini
betroffen, diese Worte, die Sokrates noch an den Straßenecken
verwandt hat, werden eingeengt.“
Das
sokratische Gespräch nach Nelson und Heckmann
Leonard
Nelson bezeichnet sich selbst als: „...getreuen
Schüler des SOKRATES und seines großen Schülers
PLATON...“,
so der Beginn seines Vortrags bei der 'Pädagogischen
Gesellschaft' Göttingen, dort 1922
gehalten, anlässlich der Gründung der
'Philosophisch-Politischen-Akademie' und 1929 posthum veröffentlicht.
Zentralaussage: „Die
sokratische Methode ist nämlich nicht die Kunst, Philosophie
zu lehren, sondern Philosophieren
zu lehren, nicht die Kunst, über Philosophen zu unterrichten,
sondern (uns)
zu Philosophen zu machen.“
Nelson
hat -bei aller Sympathie für sokratische Methode-
Platon/Sokrates aber auch kritisiert, da Nelson sich beim
Philosophieren nicht als Andere-durch-Stromschläge-lähmender
(Menon,
80a) 'Zitterrochen' verstehen wollte. Nelsons Modifikation besteht
darin, dass er sich statt um einen Zweierdialog um ein moderiertes
Gruppengespräch bemüht, in dem moderierende Gesprächsleiter
sich inhaltlich zurückhalten : „...
hier hängt alles davon ab, die (Teilnehmenden)
... von Anfang an auf sich zu
stellen, sie das Selbstgehen zu lehren, ohne dass sie darum allein
gehen, und diese Selbständigkeit so zu entwickeln, daß sie
eines Tages das Alleingehen wagen dürfen, weil sie die Obacht
des (Gesprächsleiters)
... durch die eigene Obacht
ersetzen.“.
So
kommentiert Nelson die Stelle aus der Apologie:
„...ausgefragt, geprüft und ins Gebet genommen...“,
als: „nicht um ihnen lehrend
eine neue Wahrheit zu vermitteln, sondern nur, um ihnen den Weg zu
zeigen, auf dem sie sich finden läßt.“
Dies, so scheint es, weiss Sokrates, selbst wenn er sonst nichts
weiss.
Martens
(1999) fasst die
sokratische Methode als 'Dialog-Handeln'
und ihr Ziel ist 'Orientierung'.
Er
verweist auf Kant,
der in seiner 'Kleinen
Schrift von 1786'. „Was heißt: sich im Denken orientieren?“
in
der Schlussanmerkung schreibt: „Aufklärung
in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar
leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe
zu dieser Reflexion zu gewöhnen. Ein Zeitalter aber aufzuklären,
ist sehr langwierig; denn es finden sich viele äußere
Hindernisse, welche jene Erziehungsart teils verbieten, teils
erschweren.“
Doch
zurück zu Nelson, der sich an vielen Stellen seines Vortrags
auch auf Kant bezieht, also nicht nur Platoniker sondern auch noch
NeuKantianer ist. Besonders hervorzuheben , ist die Aussage, dass es
in der Geschichte der Philosophie zweimal die: „Aussicht
[gab], die Philosophie aus dem Stadium des Herumtappens auf den
sicheren Weg der Wissenschaft zu bringen. ...“
-
erstens mit Sokrates, zweitens mit Kant. Zu Sokrates findet sich
folgende jauchzende und zugleich scharfsinnige Passage beim jungen
Altphilologen Friedrich Nietzsche : „Wer
das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede
Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauchzen über
die neue Erfindung des vernünftigen
Denkens... (!)[
]... Jenes Alte war das Denken im Banne der Sittlichkeit, für
das es lauter festgestellte Urtheile, festgestellte Ursachen, keine
anderen Gründe, als die der Autorität gab: so daß
Denken ein Nachreden
war..[ ]..Sokrates war es, der den entgegengesetzten Zauber, den der
Ursache und Wirkung, des Grundes und der Folge entdeckte...[ ]“
Der
Mensch entdeckt sich seit der klassisch griechischen Aufklärung
als das „nicht festgestellte“ Wesen.
Zusammenfassend
kann bis hier festgehalten werden, dass Nelson die sokratische
Methode vom Zwiegespräch (Dyade) zum Gruppengespräch
gemacht hat, wo es einen 'neutralen' sokratischen Lehrer/Leiter gibt,
der jedem der Gruppe die Chance inhaltlich weiterzukommen gibt. Den
Nachteil dieser Modifikation sieht zum Beispiel Birnbacher
darin, dass die größere Komplexität der
Gruppeninteraktion die Gefahr in sich birgt, bei der Wahrheitssuche
auf die Schiefe Bahn abzurutschen, d.h. sich vom folgerichtigen
Nachdenken zu entfernen, und/oder die Ausgangsfrage aus den Augen zu
verlieren. Diesem Problem ist Heckmann
(Schüler Nelsons, von 1927 – 1932 Lehrer in der
Erwachsenenabteilung des von Nelson eröffneten
Landerziehungsheims Walkenmühle bei Melsungen in Nordhessen)
entgegengetreten.
Mit
der Bearbeitung der sokratischen Methode setzt Heckmann an diesem
Punkt an, indem er nicht mehr wie Nelson davon ausgeht, dass es
objektiv gültige philosophische Wahrheiten gibt und das
menschliche Nachdenken zu ihrer Auffindung in der Lage ist, was
Nelson (wie Fries) als „Selbstvertrauen
der Vernunft“
bezeichnete. Heckmann schreibt der sokratischen Methode eine neue,
selbständigere Rolle zu: „Ein
Gespräch ist sokratisch, wenn es dem einzelnen Teilnehmer dazu
verhilft, den Weg vom konkret Erfahrenen zur allgemeinen Einsicht
selber zu gehen [ ]. Nur indem der einzelne diese Arbeit selber
leistet, gewinnt er Einsicht. [ ] Im sokratischen Gespräch hat
der Gesprächsleiter die pädagogische Aufgabe.....“.
- Zur Erfüllung dieser pädagogischen Aufgabe hat Heckmann
sechs pädagogische
Maßnahmen entwickelt,
deren Ziel die Konsensfindung über eine Aussage durch das
sokratische Gespräch ist. Diesem Konsens schreibt er den
Charakter des Vorläufigen zu: „Bis
auf weiteres bestehen keine Zweifel mehr an der erarbeiteten Aussage.
Jedoch kann uns ein bisher nicht erwogener Gesichtspunkt in den Blick
kommen, der neue Zweifel hervorruft. Dann muß die bisher nicht
mehr angezweifelte Aussage von neuem geprüft werden. Niemals
aber wird eine Aussage erreicht, die neuer Revisionsbedürftigkeit
grundsätzlich entzogen wäre.“
(S.87) Heckmann sieht Punkt 6. Lenkung
('in fruchtbare Bahnen') als
höchste Anforderung für den Gesprächsleiter, da das
Erkennen und Nutzen fruchtbarer Ansätze und Fragen voraussetzt,
dass der Leiter den Teilnehmern deutlich voraus sein muss, bezüglich
philosophischer Einsichten und der Erfahrung darin, wie diese zu
erlangen sind. Die sechs Maßnahmen, die als Forderung für
den Leiter gelten, haben den Vorteil, dass diese Gesprächsregeln
dann im weiteren Verlauf auch von den Gesprächsteilnehmern
beachtet werden (können) und so eine regelmäßig
„neo-sokratisch“ miteinander sprechende Gruppe weniger Leitung
bedarf, sondern sich selbst anleitet. Der vorherige Leiter kann sich
dann inhaltlich am Gruppengespräch beteiligen, als einer unter
Gleichen. Wenn das Gespräch in einem Café Philo gut in
Gang gekommen ist, erleben wir das auch: Gespräch unter
Gleichen.
>>Sich-Wundern<<
- damit fängt das Philosophieren an. Sich-Wundern-Können,
auch noch mit fortschreitendem Alter, und jenes >>innere
Jauchzen<< (der ungewöhnliche Altphilologe Nietzsche) beim
interessierten Verfolgen der Wechselrede, sind vermutlich die
wichtigsten Quellen des Vergnügens und des philosophischen
Einsicht-Gewinnens beim Café Philo.
„>Was bringt uns zum Denken?<
Die klassische Antwort lautet: Das Staunen ist der Anfang von
Philosophie(ren) … Reflexion ist seit Sokrates immer auch dabei,
das selbsterzeugte Gedankengeflecht wieder aufzulösen.“ In
ihrem letzten Werk: >Vom Leben des Geistes< hält Hannah
Arendt Zwiegespräch mit Sokrates: „... gefrorene Gedanken,
scheint Sokrates zu sagen, stellen sich so zwanglos ein, dass man sie
im Schlaf anwenden kann; doch wenn dich der Wind des Denkens … aus
dem Schlaf geweckt und völlig wach und lebendig gemacht hat,
dann wirst du erkennen, dass du nichts in der Hand hast als
Ratlosigkeit“ Nichtwissen – auf der Objektebene (wie moderne
Sprachphilosophen gerne sagen). Dann aber steigt Hannah Sokrates
gleichsam eine Stufe höher (auf die Metastufe, die
Reflexionsstufe) und fährt fort: „ … und das beste ist immer
noch, (die Suche) zu unserer gemeinsamen Sache zu machen.“ Nach:
Reiner Wimmer, Vier jüdische Philosophinnen, Tübingen
1990,293
>>Wage
es nur, vernünftig zu sein [sapere aude]; fang nur an damit; wer
die Stunde hinausschiebt, in der er mit dem vernünftigen Leben
anfängt, der gleicht dem Toren, der wartet, bis der Fluss
abgeflossen ist; aber er strömt weiter und wird in alle Ewigkeit
weiterströmen.<<
(Horaz, Epistolae 2, 40.)
Literaturhinweise
Platon,
2007: Euthyphron, Reclam, Stuttgart