Donnerstag, Oktober 20, 2011

O R P H E U S

SOMMER 2011Zum Schluss noch eine Geschichte:



Der kleine und der große Orpheus

Zweierlei Glück



In alter Zeit, lebten in einer kleinen Stadt zwei Sänger namens Orpheus. Der eine von den beiden war der große. Er hatte die Kithara erfunden, eine Vorform der Gitarre, und wenn er in die Saiten griff und sang, war die Natur um ihn verzaubert. Wilde Tiere lagen zahm zu seinen Füßen, hohe Bäume bogen sich ihm zu: nichts konnte seinen Liedern widerstehen. Weil er so groß war, warb er um die schönste Frau. Danach begann der Abstieg. Während er noch Hochzeit hielt, starb die schöne Eurydike, und der volle Becher, noch während er ihn hob, zerbrach. Doch für den großen Orpheus war der Tod noch nicht das Ende. Mit Hilfe seiner hohen Kunst, fand er den Eingang in die Unterwelt, stieg hinab ins Reich der Schatten, setzte über den Strom des Vergessens, kam vorbei am Höllenhund, trat lebend vor den Thron des Totengottes und rührte ihn mit seinem Lied.

Der Tod gab Eurydike frei - doch unter einer Bedingung, und Orpheus war so glücklich, dass ihm die Häme hinter dieser Gunst entging. Er machte sich auf den Weg zurück und hörte hinter sich die Schritte der geliebten Frau. Sie kamen heil am Höllenhund vorbei, setzten über den Strom des Vergessens, begannen den Aufstieg zum Licht, sahen es von ferne. Da hörte Orpheus einen Schrei - Eurydike war gestolpert - erschrocken drehte er sich um, sah noch die Schatten fallen in die Nacht und war allein. Und fassungslos vor Schmerz sang er das Abschiedslied: "Ach, ich habe sie verloren, all mein Glück ist nun dahin!" Er selber fand ans Licht zurück, doch das Leben war ihm bei den Toten fremd geworden. Als betrunkene Frauen, ihn zum Fest des neuen Weines führen wollten, weigerte er sich, und sie zerrissen ihn bei lebendigem Leibe. So groß war sein Unglück, so vergeblich seine Kunst.

Aber: alle Welt kennt ihn!



Der andere Orpheus war der Kleine. Er war nur ein Bänkelsänger, trat bei kleinen

Festen auf, spielte für die kleinen Leute, machte eine kleine Freude und hatte

selber Spaß dabei. Da er von seiner Kunst nicht leben konnte, lernte er noch einen

anderen, gewöhnlichen Beruf, heiratete eine gewöhnliche Frau, hatte gewöhnliche

Kinder, sündigte gelegentlich, war ganz gewöhnlich glücklich und starb alt und

lebenssatt.

Aber: niemand kennt ihn...

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