Universität Konstanz
WS 07/08
HS: Heidegger/ Was heißt Denken?
Dozent: V.M. Roth
Referent: Sebastian Bock
Die Erlösung von der Rache als Brücke zur höchsten Hoffnung
Als Zarathustra ein reifer Mann geworden war und seine über alle Maßen gewachsene Weisheit ihn zum zweiten Mal zu den Menschen trieb, da sprach er zu seinen Jüngern auch davon, was den Menschen bisher am tiefsten herabgezogen und im Bereich des Menschlichen am meisten Unheil gestiftet hat: Vom Geist der Rache.
»Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung […]«[1] - mit diesem Satz Zarathustras hat Nietzsche den Weg zu dem gewiesen, was sein eigentliches Denken ausmachte und seinen einzigen Gedanken bildete – zumindest behauptet dies Heidegger in seiner Funktion als Leiter auf dem Weg zum Denken. Ich werde nun versuchen, den Gedanken Nietzsches nachzudenken und mich abseits der helfenden Hand Heideggers dabei von folgenden Fragen leiten lassen: Was versteht Nietzsche unter Rache, worin sieht er deren unheilvolle Auswirkungen begründet und inwiefern kann die Erlösung von der Rache zur höchsten Hoffnung, zum Übermenschen, führen?
Unter Rache versteht man allgemein eine Handlung, die mit der Intention ausgeführt wird, einen tatsächlich erlittenen oder zumindest als solchen empfundenen Schaden auszugleichen. Als Ausgleich wird dabei primär nicht die Linderung beziehungsweise Aufhebung des erlittenen Schadens angestrebt, sondern vor allem die Verursachung eines mindestens als gleichwertig betrachteten Schadens bei demjenigen, der den die Rache Ausführenden oder einen Dritten einstmals geschädigt hat. Die Art der als solchen wahrgenommenen Schäden variiert stark und reicht von direkten körperlichen oder materiellen Schäden, über die verschiedenen Formen des Verlustes der Ehre oder allgemein der Stellung im öffentlichen Leben bis hin zum empfundenen Verlust des Gefühls der leiblichen Sicherheit. Die Rache darauf kann dann auf die unterschiedlichste Art und Weise erfolgen: direkt oder indirekt, geheim oder offen, unmittelbar aus reaktiven Gefühlen heraus oder nach jahrelanger Planung, auf den Schädigenden beschränkt oder auf ganze Familien oder gar Völker ausgedehnt – was all diese Formen der Rache gemeinsam haben, ist die ihr zugrunde liegende Vorstellung, dass Leid durch Leiden-Machen ausgleichbar ist.
Der Verzicht auf Rache wird dabei oft als starker Ausdruck der hohen Moral einer Person gesehen – und gilt unter anderem im Christentum als Tugend. Häufig kommt es dann auch nicht zum Vollzug der Rache, sondern zur Vergebung und Versöhnung des potentiellen Rächers mit dem ihm einstmals Schädigenden. Aber liefert diese Möglichkeit des Verzichts auf Rache auch die Steine, aus denen Nietzsche seine Brücke zur höchsten Hoffnung bauen wollte?
Wohl kaum. Der auf die Rache Verzichtende setzt sich selbst in ein negatives Verhältnis zur Rache und bleibt ihr damit dennoch verbunden – obwohl er auf sie verzichtet, gibt er sie noch lange nicht auf. Er verzichtet in konkreten Fällen auf den Ausgleich eines erlittenen Schadens, vielleicht weil er hinreichend stark ist, die Auswirkungen des Schadens gefahrlos zu überstehen oder vorausschauend genug, um zu sehen, dass die Vergeltung des erlitten Schadens nur weiteren Schaden nach sich zieht – aber dem prinzipiellen Ausgleichsgedanken bleibt er dennoch verhaftet. Dieser eigentümliche, die Rache tragende Ausgleichsgedanke ist das, was dem Denker Nietzsche zu denken gibt. Der Gedanke, dass ein Leiden-Machen ein Leiden ausgleichen kann, drückt ein seltsames Missverhältnis aus und bildet eine gedankliche Disharmonie, die sich dem sensiblen Denker Nietzsche querstellt. Diese Disharmonie kündigt das unheilvolle Wesen des Geistes der Rache an – und diesem versucht er, auf den Grund zu gehen.
Wenn es um die Begründung der Rache geht, wird in den meisten Fällen die Gerechtigkeit angeführt. Der erlittene Schaden wird als eine erlittene Ungerechtigkeit betrachtet und es gilt als Recht, die Gerechtigkeit durch das Schädigen wiederherzustellen. Der erlittene Schaden des Geschädigten wird durch einen erlittenen Schaden des Schädigenden ausgeglichen – so spricht die Gerechtigkeit. Aber kann die Gerechtigkeit auf diese Weise die Rache begründen?
Sie kann es nur dann, wenn sie als absolut verstanden wird – als solche entzieht sie sich jeder weiteren Begründung und stellt einen Grund dar, auf dem man zum Stehen kommen muss – Nietzsche bleibt jedoch nicht stehen, er geht weiter. Wenn man die Gerechtigkeit nicht als gottgegebene oder dem Menschen intrinsische Einrichtung begreift, dann wird schnell klar, dass durch die Begründung der Rache durch die Gerechtigkeit gar nichts begründet wird: Dadurch wird das Eigentümliche der Rache zum Eigentümlichen der Gerechtigkeit und die Frage nach der Begründung wird nur verschoben, aber nicht beantwortet. Nietzsche geht weiter und er geht sogar so weit, dass er das allgemein akzeptierte Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Rache umdreht und die Gerechtigkeit, das Recht und die Strafe als eine Folge des Wirkens des Geistes der Rache darstellt. „Nehmt euch in Acht vor Jenen, »in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist« und »die viel von ihrer Gerechtigkeit reden«[2], denn in diesen ist der Geist der Rache mächtig!“ – lässt er seinen Zarathustra dessen Jünger warnen. Indem er die Rache als Grund der Gerechtigkeit und der Institutionen, die sie herbeizuführen bemüht sind, begreift, zieht er die großen Bahnen der Wirkung des Geistes der Rache und verweist auf die ungeheure Tragweite seines Gedankens – aber die Annäherung an das Wesen der Rache und die Auflösung der in ihr erklingenden Disharmonie kann dadurch freilich nicht gelingen.
Aber Nietzsche bleibt auch an diesem Punkt nicht stehen, sondern schreitet fort und lässt Zarathustra, bedeutungsschwer auf der Brücke stehend, den eigentlichen Grund der Rache ankündigen: „Dies, ja dies allein ist Rache selber: Des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr »Es war.«“[3]. Um diesen Grund begreifen zu können, muss man die Bedeutung, die der Begriff des Willens für Nietzsche hatte, erfassen. Wille war für den späten Nietzsche vor allem Wille zur Macht und diesen fand er im Bereich des Lebendigen als allgegenwärtig und so ließ er es auch Zarathustra ergehen: »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht«[4]. Der Wille zur Macht ist dabei allgemein ein Streben, dass allem Lebendigem inne wohnt, dabei aber nicht der bloßen Erhaltung dient, sondern über das Strebende hinaus strebt. Beim Menschen drückt sich dieses Streben in erster Linie als Wille zur Selbstüberwindung, also dazu, Macht über sich selbst zu erlangen, aus. Der Wille zur Macht ist aktiv und vermag nicht, passiv zu sein: »Der Wille ist ein Schaffender«[5]. Dort, wo der Wille will, ist er tätig – dort kann er über das Strebende hinaus streben, befreien und Macht ausüben.
Das einzige, das sich seiner Macht entzieht, ist die Zeit. Er ist ohnmächtig gegenüber dem Vergehen und dem, was vergangen ist. Seine Ohnmacht gegen das Vergangene und das Vergehen begründet sich darauf, dass sich das Vergangene als Vergangenes verfestigt und das Vergehen nur dergestalt passiert, dass es zu etwas Vergangenem führt. Dieses Vergehen entzieht sich ihm, indem es sich als Vergangenes verfestigt. Dadurch kann er nur machtlos und als Wille zur Macht sich somit nur zuwider wollen. Dieser Widerwille des Willens hemmt ihn, aber hebt ihn nicht auf – der Wille ist ein Schaffender und es steht ihm nicht frei, nicht zu wollen. Der Wille leidet an seinem Widerwillen, denn dieser Widerwille ist ein Widerstand. Er kann den Ursprung des Widerwillens nicht überwinden und sich selbst nicht aufheben – er kann also sein Leid nicht beseitigen. Der Wille ist ein Schaffender – und da er sein Leiden nicht beiseite schaffen kann, schafft er Leiden – und zwar bei allem, was leiden kann. Das ist der Ursprung der Disharmonie, die in der Rache erklingt und sie ausmacht: Ich leide und kann dieses Leiden nicht abschaffen und nicht Nichts schaffen – also schaffe ich Leiden, also strafe ich weil ich leide – das ist die Mechanik, an die der Wille durch seinen Widerwillen gegen die Zeit und ihr „Es war“ gekettet wird und durch die er auf allen Ebenen seines Wirkens funktioniert.
Wie kann er aus dieser Mechanik herauswachsen, wie sich von den Ketten befreien?
Das Missverhältnis des Ausgleichsgedankens entstammt dem Missverhältnis zwischen Wille und Zeit. Um die Disharmonie des Geistes der Rache zu überwinden und sich von der Rache zu erlösen, muss man den Willen und die Zeit miteinander in Einklang bringen. Wie denkt sich Nietzsche diesen Einklang? Es ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen, mit dessen Hilfe er das Missverhältnis aufzuheben und den Willen mit der Zeit zu versöhnen gedenkt. Damit aus dem Widerwillen des Willens ein Wille wird, muss aus dem Vergehen der Zeit am Willen vorbei ein Gehen des Willens mit der Zeit werden. Der Wille muss die Zeit wollen und das sich ihm entziehende „Es war“ in seinen Einflussbereich holen. Dies vermag er dann, wenn er es will. Um das „Es war“ zu wollen, muss der Wille zu allem „Es war“ „So wollte ich es“ und „So will ich es“ sagen – so lässt es Nietzsche Zarathustra lehren.[6] Dieses Wollen des „Es war“ hat einen starken Gegenwartsbezug – der Wille kann das Vergangene nur dann gewollt haben, wenn er es wollte, als es noch Gegenwart war.
Um das „Es war“ gewollt zu haben, muss der Wille es also vor allem wollen, wenn es ist – dieses Appellieren an den Gegenwartsbezug des schaffenden Willens ist Nietzsche jedoch noch zu schwach – es lässt noch zu viel Raum für die Ungewissheit, aus der sich das Missverhältnis zwischen Willen und Zeit speist. Es lässt noch immer zu, dass der Wille das Schaffen der Zeit überlässt, während er selbst nur darauf wartet, dass die Zukunft Geschenke mitbringt – und nur dann will, wenn diese Geschenke Freude bereiten und wiederum an seinem Widerwillen leidet, wenn sie Schaden anrichten. Und so lehrt Zarathustra dann auch, dass der Wille zu allem „Es war“ auch sagen muss: „So werde ich es wollen!“. Mit dieser scheinbaren Paradoxie steigert Nietzsche die Forderung an den Gegenwartsbezug des Willens zum Maximum – indem er das Gegenwärtige sich ewig wiederholen lässt und dem Augenblick somit das größtmögliche Gewicht verleiht. Um alles Vergangene auch in der Zukunft wollen zu können, muss alles Vergangene in der Zukunft wiederkommen. Dem Augenblick wird damit das Vergängliche genommen, dem Vergangenen die Starre und dem Zukünftigem das Zufällige. Die Stasis des Vergehens als das in das Vergangene Gehende wird aufgebrochen zu der Dynamik des Gehens und des Werdens – das ewige „Es war“ verschwindet und bringt das ewige „Es wird“ hervor: All das, was war, wird werden wie es ist – so könnte man das Denken des Gedankens der ewigen Wiederkunft des Gleichen in einem Satz nachzeichnen.
Damit ist der Gedanke umrissen, der zu der Brücke zur höchsten Hoffnung führen soll – aber stellt er sie selbst schon dar, hält er allein schon, was er Nietzsche zu versprechen scheint?
Er ist sicherlich keine Lösung des Problems der Disharmonie in dem Sinne, dass man ihn nur zu denken braucht, um von der Rache erlöst zu werden – der Gedanke ist vielmehr ein Prüfstein, der die Linie zwischen Erlösung und Verdammnis zieht.
„Kannst du jeden Augenblick so wollen, dass dir der Gedanke daran, dass er ewig wiederkommt, keinen Schrecken, sondern höchste Freude bereitet?“ – so lautet die Inschrift auf dem Prüfstein, den Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen darstellt.
Es genügt also nicht, den Gedanken nur zu denken – er kann zur Erlösung führen, aber man kann an ihm auch scheitern. Denn wenn der Wille es nicht vermag, alles Gegenwärtige auch dann zu wollen, wenn es sich ewig wiederholt, so ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen der schwerste, den man denken kann und derjenige, dem dieses Wollen nicht gelingt, geht daran zugrunde. Die Erlösung von der Rache ist dann eine Verdammnis und aus dem Widerwillen des Willens gegen die Zeit und ihr „Es war“ wird der Widerwille des Willens gegen die ewige Wiederkunft des Nicht-Gewollten – und ein stärkerer Widerwille ist nicht vorstellbar.
Die Erlösung von der Rache kann nicht im Denken allein liegen. Damit Nietzsches Gedanke von der Rache erlösen kann, darf er nicht nur gedacht, sondern er muss gewollt werden. Es ist der Wille, der sich aus der Starre des Vergehens der Zeit zum Vergänglichen zum Gehen in der Zeit und damit zur Dynamik des Werdens schaffend befreien muss. Der Wille zur Macht selbst muss sich den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen einverleiben – er muss zu dem werden, was dieser Gedanke ausdrückt. Dann wird aus dem Widerwillen des Willens gegen die Zeit und ihr „Es war“ der Wille des Willen zur ewigen Wiederkunft des Gewollten – und der Wille somit zum Ausdruck der höchsten Lebensbejahung.
Derjenige, dessen Wille ein Ausdruck dieses Gedankens wird, erfüllt die höchste Hoffnung und geht vom Menschen hinüber zum ewigen Werden des Übermenschen. Zum Übermenschen zu werden, ist freilich eine gewaltige Aufgabe. Gelingt es, so will man sich selbst als ewig drehendes Rad des Werdens – und die Disharmonie löst sich in einem halkyonischen Ton auf und man erlöst sich vom Geist der Rache und all seinen Auswüchsen. Aber nur zu schnell wird man von einem Hinübergehenden zum Unter- und Zugrunde-Gehenden – Nietzsches Gedanke ist kein Gedanke für Jedermann. Es ist fraglich, ob es überhaupt ein Gedanke für irgendjemanden ist und das in dem Gedanken gedachte überhaupt gewollt werden kann.
(Aber dieser Frage soll an dieser Stelle nicht nachgegangen werden – denn Nietzsche selbst hat die Antwort darauf bereits gegeben: Dieser Gedanke ist ein Gedanke für „Alle und Keinen“.
IST DIESER SCHLUSSGELUNGEN ? V.M.R. )
[1] F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA IV, 128;
[2] KSA IV, 129;
[3] KSA IV, 180;
[4] KSA IV, 147;
[5] KSA IV, 181;
[6] KSA IV, 181;
Mittwoch, Februar 20, 2008
Wiederkehr
Labels:
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Zarathustra
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